Eine Spur von Verrat
Latterly?«
»Oliver Rathbone. Seine Kanzlei befindet sich in der Vere Street, ganz in der Nähe von Lincoln’s Inn Fields«, antwortete Hester wie aus der Pistole geschossen.
»Ist das Ihr Ernst?« fragte er verblüfft. »Ein in der Tat brillanter Mann. Ich kenne ihn vom Mordfall Grey. Was für ein außergewöhnlicher Urteilsspruch! Und Sie glauben wirklich, er wäre bereit, Alexandras Fall zu übernehmen?«
»Wenn sie es wünscht.« Hester wurde unvermittelt von einer Woge der Unsicherheit erfaßt, die sie selbst überraschte. Sie merkte, daß sie nicht mehr in der Lage war, den Blicken der anderen standzuhalten, inklusive Peverells – nicht weil er etwa skeptisch war, sondern weil er über eine so bemerkenswerte Beobachtungsgabe verfügte.
»Ausgezeichnet«, sagte er ruhig. »Ganz ausgezeichnet. Das haben Sie gut gemacht, Miss Latterly. Ich bin Ihnen sehr verbunden, denn ich weiß, welch exzellenten Ruf Mr. Rathbone genießt. Ich werde Mrs. Carlyon umgehend davon unterrichten.«
»Aber du wirst nicht zulassen, daß sie sich falsche Vorstellungen bezüglich ihrer Entscheidungsfreiheit macht«, warf Felicia grimmig ein. »Egal wie brillant« – sie sprach das Wort mit abfällig geschürzten Lippen aus, als handle es sich um eine verabscheuungswürdige Eigenschaft – »dieser Mr. Rathbone auch sein mag. Er kann das Gesetz weder verdrehen noch ihm trotzen, und es wäre auch absolut nicht erstrebenswert, wenn er es versuchte.« Sie atmete tief ein und mit einem lautlosen Seufzer wieder aus. »Thaddeus ist tot, und das Gesetz verlangt, daß jemand dafür zur Verantwortung gezogen wird.«
»Jeder Mensch hat das Recht, sich auf die Art und Weise zu verteidigen, die ihm nach eigenem Ermessen am meisten dient, Schwiegermama«, sagte Peverell nachdrücklich.
»Möglich, aber die Gesellschaft hat auch ihre Rechte – mit gutem Grund!« Sie starrte ihn herausfordernd an. »Alexandras Interesse darf nicht über das der restlichen Menschheit gehen. Das werde ich ganz gewiß verhindern!« Sie wandte sich abrupt an Hester. »Vielleicht erzählen Sie uns jetzt ein wenig von Ihren Erlebnissen mit Miss Nightingale, Miss Latterly. Das wäre äußerst anregend. Sie ist wirklich eine bemerkenswerte Frau.«
Hester war dermaßen verblüfft, daß es ihr vorübergehend die Sprache verschlug. Dann wurde sie von widerstrebender Bewunderung für Felicias unglaubliche Selbstbeherrschung übermannt.
»Ja, natürlich – gern…« Und sie begann mit den Geschichten, die ihrer Ansicht nach den größten Anklang in der Runde finden und die wenigsten Meinungsverschiedenheiten aufwerfen würden. Sie erzählte von den langen Nächten im Krankenhaus von Skutari, von Erschöpfung und Beharrlichkeit, von den endlosen Putzarbeiten, die erledigt werden mußten, vom Mut der Verzweiflung. Den Schmutz, die Ratten, die schier unglaubliche Inkompetenz und die erschreckenden Zahlen der Toten und Verletzten, die durch Voraussicht, entsprechende Vorkehrungen, Transport und Hygiene zu vermeiden gewesen wären, behielt sie für sich.
Am selben Nachmittag noch begab sich Peverell erst zu Alexandra Carlyon, dann in die Vere Street zu Oliver Rathbone. Am Tag darauf, dem 6. Mai, fand Rathbone sich an der Gefängnispforte ein und verlangte, in seiner Funktion als Mrs. Carlyons Anwalt zu ihr vorgelassen zu werden. Er wußte, man würde sich nicht weigern. Es war dumm, sich im voraus ein Bild von Charakter und äußerer Erscheinung einer Klientin zu machen, und doch hatte er bereits eine klare Vorstellung von Alexandra Carlyon, als er im Kielwasser der Wärterin durch die grauen Korridore ging. Er sah eine dunkelhaarige Frau mit üppiger Figur und einem Hang zur Dramatik vor sich, die übermäßig gefühlsbetont war. Schließlich hatte sie ihren Mann entweder in einem Eifersuchtsanfall um die Ecke gebracht oder – falls Edith Sobell recht behielt – ein falsches Geständnis zugunsten ihrer Tochter abgelegt.
Als die Wärterin, eine matronenhafte Person mit fest auf dem Hinterkopf verknotetem, eisengrauem Haar, jedoch endlich die Tür zu Alexandra Carlyons Zelle aufsperrte, entdeckte er eine eher durchschnittlich große Frau. Sie war sehr schlank – zu schlank für das gängige Schönheitsideal –, hatte naturkrauses, blondes Haar sowie ein markantes, lebendiges und phantasievolles Gesicht. Ihre Wangenknochen waren kräftig, die Nase klein und leicht gebogen, der Mund zwar schön, aber viel zu breit; er wirkte leidenschaftlich und humorvoll zugleich.
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