Eine Spur von Verrat
Gewiß keine Schönheit im herkömmlichen Sinn und doch erstaunlich attraktiv, sogar in ihrem erschöpften und verängstigten Zustand und dem überaus schlichten, weißgrauen Kleid.
Desinteressiert und resigniert blickte sie zu ihm auf. Er wußte bereits, daß sie aufgegeben hatte, noch bevor ein Wort gesprochen worden war.
»Sehr erfreut, Mrs. Carlyon«, begann er förmlich. »Mein Name ist Oliver Rathbone. Ihr Schwager, Mr. Erskine, hat Ihnen vermutlich mitgeteilt, daß ich bereit wäre, Sie vor Gericht zu vertreten, sofern Sie es wünschen?«
Sie wagte den kläglichen Versuch eines Lächelns, doch es blieb eine fruchtlose Anstrengung, die mehr ihren guten Manieren als ihren Gefühlen entsprang.
»Sehr erfreut, Mr. Rathbone. Ja, Peverell hat mir davon erzählt, aber Sie vergeuden Ihre Zeit. Sie können mir nicht helfen.«
Rathbone sah zur Wärterin hin.
»Vielen Dank – Sie können gehen. Ich rufe Sie, wenn ich fertig bin.«
»Wie Sie woll’n«, meinte die Frau, zog sich zurück und sperrte die Tür mit einem geräuschvollen Klicken ab.
Alexandra saß auf der Pritsche. Rathbone, der nicht den Eindruck erwecken wollte, auf dem Sprung zu sein, ließ sich auf dem anderen Ende nieder. Er hatte keineswegs die Absicht, das Feld kampflos zu räumen.
»Vielleicht haben Sie recht, Mrs. Carlyon, aber schicken Sie mich bitte nicht fort, ohne mich wenigstens angehört zu haben. Ich bilde mir bestimmt kein vorschnelles Urteil über Sie.« Sich seines Charmes durchaus bewußt, lächelte er sie an; derlei war Bestandteil seines Berufs. »Tun Sie es bitte auch nicht.«
Sie erwiderte das Lächeln nur mit den Augen, die ihn zugleich traurig und etwas spöttisch anblickten.
»Selbstverständlich werde ich Sie anhören, Mr. Rathbone. Allein schon Peverell und dem guten Ton zuliebe. Fakt bleibt jedoch, daß Sie mir nicht helfen können.«
Sie zögerte so kurz, daß es kaum wahrnehmbar war. »Ich habe meinen Mann ermordet, und das Gesetz verlangt Sühne für diese Tat.«
Rathbone registrierte, daß sie das Wort hängen sorgfältig mied, und wußte im selben Moment, daß sie sich zu sehr davor fürchtete, um es laut aussprechen zu können. Womöglich wagte sie nicht einmal, daran zu denken. Sein Mitleid war bereits auf dem Vormarsch, und er schlug es rigoros zurück. Auf einer solchen Basis ließ sich keine Verteidigung aufbauen. Es war sein Verstand, den er benutzen mußte.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist, Mrs. Carlyon – alles, was Ihres Erachtens von Bedeutung für den Tod Ihres Mannes ist. Fangen Sie an, wo immer Sie möchten.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Mann hatte bereits seit geraumer Zeit eine Schwäche für Louisa Furnival. Sie ist eine sehr schöne Frau und hat eine Art, die bei Männern großen Gefallen findet. Sie hat mit ihm geflirtet. Ich glaube, sie flirtet mit beinahe jedem. Ich war eifersüchtig – und das war’s auch schon.«
»Ihr Mann flirtete also auf einer Dinnerparty mit Mrs. Furnival, daraufhin verließen Sie den Raum, folgten ihm nach oben, stießen ihn über das Geländer«, sagte Rathbone ausdrucklos, »und während er fiel, liefen Sie rasch nach unten. Als er dann bewußtlos auf dem Boden lag, griffen Sie zur Hellebarde und trieben sie ihm in die Brust? Ich nehme an, es war das erste Mal in Ihrer dreiundzwanzigjährigen Ehe, daß er Sie derart gekränkt hat?«
Sie fuhr ruckartig herum und schaute ihn erbost an. So formuliert und emotionslos aneinandergereiht, klang es absolut grotesk. Es war der erste Funken einer echten Gefühlsregung, was an sich Anlaß zur Hoffnung bot.
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte sie kalt. »Es war mehr als ein Flirt. Er hatte schon seit längerem ein Verhältnis mit ihr.
Sie haben es mir förmlich ins Gesicht geschrien – und das vor meiner Tochter und ihrem Mann. Das hätte wohl jede Frau in Rage gebracht.«
Er forschte in ihren ausdrucksvollen Zügen, sah Müdigkeit, Entsetzen, Furcht und auch ein wenig Wut, doch sie ging nicht tief, war vergänglich und leer, ein flüchtiges Aufbäumen – wie das kurze Auflodern einer Streichholzflamme, nicht wie die sengende Hitze eines Schmelzofens. Log sie nun, was diese vermeintliche Affäre betraf, oder war sie nur zu erschöpft, zu ausgelaugt, um noch leidenschaftliche Gefühle empfinden zu können? Das Objekt ihres Zorns war tot, sie selbst hatte die Schlinge bereits so gut wie um den Hals.
»Und doch haben es viele vor Ihnen ertragen«, gab er zurück, ohne sie aus den Augen zu
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