Eine Spur von Verrat
erklärte, Thaddeus sei tot, wir sollten die Polizei verständigen.«
»Was Sie unverzüglich getan haben?«
»Natürlich. Ein gewisser Sergeant Evan erschien und stellte uns die verschiedensten Fragen. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens.«
»Es hätten folglich mehrere Personen die Gelegenheit gehabt, General Carlyon zu ermorden: Mrs. Carlyon, Ihr Mann, Sabella und Sie selbst?«
Sie machte ein verwundertes Gesicht. »Ja, vermutlich schon. Aber warum sollten wir?«
»Das weiß ich noch nicht, Mrs. Furnival. Wann kam Sabella Pole wieder nach unten?«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Nachdem Charles uns eröffnet hatte, daß Thaddeus tot ist. Irgend jemand ist nach oben gegangen, um sie zu holen, aber ich weiß nicht mehr, wer. Ihre Mutter wahrscheinlich. Man hat Sie engagiert, um Alexandra zu helfen, das ist mir natürlich klar, aber ich sehe nichts, was Sie für sie tun könnten. Weder mein Mann noch ich haben auch nur das geringste mit Thaddeus’ Tod zu tun. Gut, Sabella ist sehr emotional, ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß sie ihren Vater ermordet hat. Und sonst kommt keiner in Frage, ganz abgesehen davon, daß niemand ein Motiv hatte.«
»Ist Ihr Sohn noch zu Hause, Mrs. Furnival?«
»Ja.«
»Kann ich mit ihm sprechen?«
Ihr Gesicht nahm unvermittelt einen wachsamen Ausdruck an, was Monk unter den gegebenen Umständen völlig natürlich fand.
»Warum?«
»Vielleicht hat er etwas gehört oder gesehen, das dem Streit vorausgegangen ist, der den General letztlich das Leben gekostet hat.«
»Hat er nicht. Ich habe ihn schon gefragt.«
»Ich würde es trotzdem gern von ihm selbst hören, wenn Sie nichts dagegen haben. Schließlich hat Mrs. Carlyon ihren Mann nur wenige Minuten später ermordet, da muß es doch Anzeichen gegeben haben. Wenn er ein intelligenter Junge ist, hat er sicher etwas bemerkt.«
Sie zögerte eine Weile. Er hatte den Eindruck, daß sie die Vor und Nachteile gegeneinander abwog; einerseits waren da die Unannehmlichkeiten für ihren Sohn, folglich ihre Rechtfertigung, seine Bitte abzulehnen, andererseits bestand die Gefahr, daß sie sich dadurch verdächtig machte und Alexandras Schuld plötzlich in einem anderen Licht betrachtet wurde.
»Es ist bestimmt auch in Ihrem Sinn, wenn der Fall sobald wie möglich aufgeklärt wird«, sagte er vorsichtig. »Dieser Zustand der Ungewißheit dürfte kaum angenehm für Sie sein.«
Ihr Blick ruhte unverwandt auf seinem Gesicht.
»Nichts ist ungewiß, Mr. Monk. Alexandra Carlyon hat ein Geständnis abgelegt.«
»Aber damit ist der Fall noch lange nicht erledigt«, wandte er ein. »Es ist lediglich das Ende der ersten Phase. Darf ich nun mit Ihrem Sohn sprechen oder nicht?«
»Wenn es so lebenswichtig für Sie ist… Kommen Sie, ich bringe Sie hinauf.«
Monk folgte ihr aus dem Salon. Er betrachtete die weiche, feminine Rundung ihrer Schultern, den leichten Hüftschwung, mit dem sie vor ihm her ging, und die selbstbewußte Art, mit der sie ihren riesigen Rock mit den starren Reifen darunter durch die Gegend manövrierte. Sie führte ihn durch den Flur, doch anstatt die Richtung zur Haupttreppe einzuschlagen, bog sie nach rechts ab und nahm die Treppe zum Nordflügel. Zwischen den Familienschlafzimmern und Valentines Räumen lag ein Gästezimmer, das momentan unbenutzt war.
Sie klopfte kurz an, trat dann aber ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Der große, luftige Raum war wie ein Klassenzimmer eingerichtet: Tische, eine breite Tafel, mehrere Bücherregale und ein Lehrerpult. Durch die Fenster sah man die Dächer der anderen Häuser, davor die belaubten Äste eines majestätischen Baums. Ein schlanker, dunkelhaariger Junge von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren saß auf der Fensterbank. Er hatte regelmäßige Züge, eine eher lange Nase, schwere Augenlider und tiefblaue Augen. Als er Monk erblickte, stand er sofort auf. Er war wesentlich größer als erwartet, knapp ein Meter achtzig; seine Schultern wurden bereits breiter und ließen ein wenig von dem Mann ahnen, der er bald werden würde. Wie ein Turm überragte er seine Mutter. Maxim Furnival mußte ein rechter Hüne sein.
»Valentine, das ist Mr. Monk. Er arbeitet für Mrs. Carlyons Anwalt und möchte dir ein paar Fragen über den Abend stellen, an dem der General ums Leben gekommen ist.« Louisa machte erwartungsgemäß nicht viele Umstände. Sie versuchte weder die Dinge zu beschönigen, noch ihren Sohn vor der Realität zu bewahren.
Der Junge wirkte
Weitere Kostenlose Bücher