Eine Spur von Verrat
manchmal vor. Es gehört zu den Risiken der Mutterschaft. Fragen Sie jeden, der sich auf diesem Gebiet auskennt, man wird Ihnen bestätigen…«
»Ich weiß«, warf Monk ein. »Frauen geraten öfter vorübergehend aus dem Gleichgewicht…«
»Nein! Sabella war krank – das ist alles.« Sie trat so dicht an ihn heran, daß er schon dachte, sie würde seinen Arm packen, doch dann blieb sie reglos vor ihm stehen, die Hände nah am Körper. »Falls Sie andeuten wollen, Sabella hätte Thaddeus getötet und nicht ich, sind Sie auf dem Holzweg! Ich werde vor Gericht ein Geständnis ablegen, und ich werde tausendmal lieber hängen« – sie sprach das Wort überdeutlich aus, als mache es ihr Spaß, in einer offenen Wunde zu rühren – »als zuzulassen, daß meine Tochter die Schuld für etwas auf sich nimmt, das sie nicht getan hat. Haben Sie mich verstanden, Mr. Monk?«
Seine Erinnerung war völlig verblaßt, so weit entfernt, als hätte es sie nie gegeben.
»Ja, Mrs. Carlyon. Ich wußte, daß Sie das sagen würden.«
»Es ist die Wahrheit.« Ihre Stimme schwoll an und hatte unvermittelt einen verzweifelten, fast flehenden Unterton. »Sie dürfen Sabella nicht beschuldigen! Nicht, wenn Sie für Mr. Rathbone arbeiten. Mr. Rathbone ist mein Anwalt. Er darf nichts sagen, was ich nicht will.«
Teils war es eine Aussage, teils eine Art Selbstversicherung.
»Darüber hinaus vertritt er aber auch das Gesetz, Mrs. Carlyon«, erwiderte Monk mit plötzlicher Würde. »Er darf nichts sagen, was zweifelsohne unwahr ist.«
Sie starrte ihn schweigend an.
Hing seine Erinnerung vielleicht mit jener älteren Frau zusammen, die weinen konnte, ohne daß ihre Züge dadurch Schaden nahmen? Sie war die Frau des gesichtslosen Mentors gewesen, den er sich zum Vorbild gemacht hatte, als er von Northumberland nach London gekommen war.
Doch die Vision, die heute vor seinem geistigen Auge aufgetaucht war, hatte ihm eine eher junge Frau gezeigt, die wie Alexandra des Mordes an ihrem Mann angeklagt war. Und genau wie jetzt war er hierher gekommen, um ihr zu helfen.
Hatte er versagt? Hatte sie deshalb den Kontakt zu ihm abgebrochen? Unter seinen persönlichen Sachen war nichts von ihr, keine Briefe, keine Bilder, nicht einmal ein hingekritzelter Name. Warum? Weshalb hatte er ihre Spur verloren?
Dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: natürlich hatte er versagt! Und sie war an den Galgen gewandert …
»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, Mrs. Carlyon«, versprach er leise, »um die Wahrheit herauszufinden – und dann können Sie und Mr. Rathbone damit anfangen, was immer Sie wollen.«
4
Kurz vor Mittag am elften Mai erhielt Hester eine Botschaft von Edith, in der sie gebeten wurde, sobald wie möglich in Carlyon House vorbeizuschauen; sie sei auch herzlich zum Lunch eingeladen, sofern sie Lust dazu habe. Als Überbringer fungierte ein kleiner Junge mit weit über die Ohren gezogener Mütze und abgebrochenem Schneidezahn.
»Selbstverständlich«, stimmte Major Tiplady bereitwillig zu. Er fühlte sich von Tag zu Tag besser. Inzwischen ging es ihm schon so gut, daß er von seiner Unbeweglichkeit und all den Tageszeitungen und Büchern aus seiner eigenen Bibliothek sowie der von Freunden zu Tode gelangweilt war. Die Gespräche mit Hester machten ihm zwar Spaß, aber er sehnte sich brennend danach, daß in seinem Leben endlich wieder etwas Neues geschah.
»Besuchen Sie die Carlyons«, drängte er eifrig. »Bringen Sie ein wenig über den Fortgang dieses grämlichen Falls in Erfahrung. Die arme Frau! Obwohl ich eigentlich gar keine Veranlassung habe, sie zu bedauern.« Er hob die schneeweißen Brauen, was seiner Miene zugleich etwas Kampflustiges und Verwirrtes verlieh. »Anscheinend sträubt sich irgend etwas in mir gegen die Vorstellung, daß sie ihren Mann ermordet hat – ausgerechnet auf diese Art und Weise. Paßt so gar nicht zu einer Frau. Frauen bedienen sich doch gewöhnlich viel subtilerer Methoden, wie zum Beispiel Gift – finden Sie nicht?« Er registrierte Hesters leicht verwunderten Blick und wartete ihre Antwort nicht ab. »Welchen Grund sollte sie überhaupt gehabt haben?« Seine Stirn krauste sich. »Welchen Grausamkeiten seinerseits kann sie ausgesetzt gewesen sein, daß sie sich zu einem einem derart fatalen und unentschuldbaren Gewaltakt getrieben gefühlt hat?«
»Eine gute Frage«, pflichtete Hester ihm bei und legte ihr Nähzeug aus der Hand. »Und was noch wichtiger ist, weshalb erzählt
Weitere Kostenlose Bücher