Eine Spur von Verrat
sie es niemandem? Warum klammert sie sich so an ihre vermeintliche Eifersucht? Ich fürchte, sie tut es lediglich aus der Angst heraus, daß ihre Tochter die Mörderin sein könnte. Sie würde anscheinend lieber hängen als ihr Kind sterben sehen.«
»Sie müssen etwas unternehmen«, erwiderte Tiplady beschwörend. »Sie dürfen nicht zulassen, daß sie sich opfert. Wenigstens…« Er brach ab. Sein Gesicht war ein Spiegel seiner Emotionen und Gedanken: tiefes Mitgefühl, Zweifel, plötzliches Begreifen, dann von neuem Verwirrung. »Ach, meine liebe Miss Latterly, was für ein furchtbares Dilemma! Haben wir denn das Recht, dieses bedauernswerte Geschöpf daran zu hindern, ihr Leben für das ihres Kindes zu geben? Wird nicht das letzte sein, was sie sich wünscht, daß wir ihre Unschuld und damit die Schuld ihrer Tochter beweisen? Rauben wir ihr dadurch nicht das einzig Wertvolle, was ihr noch bleibt?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Hester sehr leise. Sie faltete das Leintuch zusammen und legte Nadel und Fingerhut ins Nähkästchen zurück. »Aber was, wenn es keine von beiden war? Was, wenn sie gestanden hat, weil sie befürchtet, Sabella sei die Mörderin – die es aber gar nicht getan hat? Wäre es nicht eine gräßliche Ironie des Schicksals, wenn wir auf einmal dahinterkommen würden, daß es ganz jemand anders war – nachher, wenn es zu spät ist?«
Er schloß die Augen. »Was für ein grauenhafter Gedanke. Kann denn Ihr Bekannter, dieser Mr. Monk, so etwas nicht verhindern? Sagten Sie nicht, er wäre überaus gewieft, vor allem auf dem Gebiet?«
Eine Flut trauriger Erinnerungen schwappte über sie hinweg.
»Gewieftheit allein reicht manchmal nicht aus…«
»Und genau aus diesem Grund müssen Sie jetzt zu den Carlyons gehen und zusehen, daß Sie selbst etwas in Erfahrung bringen«, sagte er bestimmt. »Finden Sie soviel wie möglich über diesen unglückseligen General Carlyon heraus. Jemand muß ihn in der Tat sehr gehaßt haben. Bleiben Sie zum Lunch dort. Halten Sie Augen und Ohren offen, fragen Sie sie aus, tun Sie alles, was sonst die Kriminalpolizei tut. Na los, worauf warten Sie noch?«
»Wissen Sie eigentlich etwas über ihn?« fragte Hester ohne echte Hoffnung und sah sich noch einmal im Raum um, ehe sie auf ihr Zimmer ging, um sich umzuziehen. Alles, was Tiplady brauchte, befand sich in seiner Reichweite; das Mädchen würde ihm das Essen bringen, sie selbst am späten Nachmittag wieder zurück sein.
»Tja, leider kenne ich ihn nur vom Hörensagen«, gab Tiplady trübsinnig zurück. »Wenn man so lange gedient hat wie ich, sind einem die Namen aller bedeutenden Generäle geläufig – und die der völligen Versager.«
Sie verzog den Mund zu einem sarkastischen Grinsen. »Und in welche Kategorie fiel er?« Mit Hesters Meinung von Generälen war es nicht weit her.
»Hm…« Tiplady atmete vernehmlich aus und lächelte sie etwas schief an. »Ich weiß es, wie gesagt, nicht aus eigener Erfahrung, aber seinem Ruf nach muß er ein regelrechter Bilderbuchsoldat gewesen sein: die geborene Führernatur – mitreißend, einfallsreich, heldenhaft. Privat war er anscheinend ein eher farbloser Mann, gesellschaftstaktisch betrachtet weder ein Salonlöwe noch eine direkte Katastrophe.«
»Auf der Krim hat er demnach wohl nicht gekämpft?« bemerkte sie zu hastig und unüberlegt, um die Worte noch zurückhalten zu können. »Die Generäle dort waren alle entweder das eine oder das andere – vorwiegend das andere.«
Gegen seinen Willen begann es um Tipladys Mundwinkel zu zucken. Er kannte die Schwächen der Armee, doch sie waren eine interne Angelegenheit, ähnlich Familienproblemen, die man vor Dritten nicht zur Schau stellte, geschweige denn zugab – Frauen gegenüber am allerwenigsten.
»Nein«, sagte er zurückhaltend. »Wenn ich mich nicht irre, hat er den Großteil seiner aktiven Jahre in Indien verbracht und war dann hier in England lange Zeit im Oberkommando tätig – als Ausbilder von Nachwuchsoffizieren und dergleichen.«
»Was hat man sich über seine menschlichen Qualitäten erzählt? Welchen Eindruck hatten die Leute von ihm?« Mehr aus Gewohnheit denn Notwendigkeit strich sie nochmals seine Decke glatt.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Die Frage schien ihn zu verblüffen. »Darüber ist nie ein Wort gefallen. Wie gesagt, privat soll er ein recht farbloser Mensch gewesen sein. Meine Güte, fahren Sie endlich zu Mrs. Sobell! Sie müssen die Wahrheit herausfinden und
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