Eine Stadt names Cinnabar
und Vincent standen allein auf dem Abhang.
Unsicher streckte Vince die Finger aus, als wären die Wände des Labors noch da, aber irgendwie transparent geworden. „Wo ist er hin?“
„Obregon? Das ist so ein kleiner Trick von ihm, wenn er ein gefährliches Experiment vorhat. Terminex wäre sehr ärgerlich, wenn das Labor in die Luft flöge und halb Craterside Park mit.“
„Aber wie macht er das?“
„Ich bin keine Gelehrte“, sagte Tourmaline achselzuckend, „nur Touristin.“
„Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen.“
„Tourmaline.“
„So heißt ein Halbedelstein. Ein hübscher Name.“
„Danke. Mein Freund heißt Timnath Obregon.“
„Ist er Regierungswissenschaftler?“
Tourmaline zögerte. „Er ist Dilettant“, sagte sie schließlich, „wie wir alle.“
„Versteh ich nicht.“
Tourmaline ging nicht weiter darauf ein, sondern wechselte das Thema. „Suchen wir uns erst mal einen Platz zum Ausruhen und etwas Kühles zu trinken.“ Sie nahm Vince bei der Hand und ging mit ihm den grünen Abhang hinunter. Auf halbem Wege zu den Türmen schwirrte eine Schar roter Vögel vom Boden hoch. „Kardinale!“ rief Vincent höchstlich verwundert aus. „Seit ich in New York war, habe ich keine mehr gesehen.“
„Wie alt sind Sie?“ fragte Tourmaline.
„Sechzehn.“
Sie sah ihn scharf an. „Jahre?“
„Was sonst? Und wie alt sind Sie?“
Tourmaline dachte an Timnaths Bemerkung über den kulturellen Schock. „Wie alte sehe ich denn aus?“
„Oh – vielleicht zwanzig.“
„Nun ja – ein bißchen älter bin ich doch schon.“
„Fünfundzwanzig? So alt sehen Sie aber nicht aus.“
Sie lächelte. „Manchmal fühle ich mich so alt.“
„Sie erinnern mich an jemanden.“
„An wen?“
„Ach – bloß ein Mädchen namens Karen. Das interessiert Sie nicht.“
„Aber doch, Vince. Erzählen Sie mir von ihr!“
Und er erzählte ihr von Karen, ganz überrascht von der Unbefangenheit, mit der er jetzt zu völlig fremden Menschen sprach, und dazu zu einer fremden Frau. Er redete, und sie hörte aufmerksam zu, und dann kamen sie an eine Tür aus geöltem Mahagoni am Fuße des ersten Turmes.
„Wir gehen in mein Apartment“, sagte Tourmaline und hielt ihm die Tür auf.
Vince zögerte an der Schwelle. „Es ist dunkel dort drinnen.“
Beruhigend faßte sie ihn am Arm und führte ihn hinein.
„Es ist ganz ungefährlich.“ Er war ebenso orientierungslos wie in Denver, als es ihn aus der Universitätsbibliothek gerissen hatte. Erfreulicherweise dauerte dieser Zustand diesmal bei weitem nicht so lange. Vince hatte das unwirkliche Gefühl, durch einen langen Gang zu schlendern, nur daß seine Gelenke wie Gummi und seine Füße schon ein ganzes Stück weiter waren als er. Dann waren seine Füße am Ziel, und sein übriger Körper schnellte an sie heran, als ob ein straffgespanntes Gummiseil losgelassen würde. Sein Magen kringelte sich verdächtig. „Mir wird wieder so …“
„Das ist der klein-Effekt“ , beruhigte ihn Tourmaline, „tief atmen, dann ist es wieder gut.“
Und es war gar kein dunkler Raum und kein schummeriger Gang. Wieder standen sie im Sonnenlicht, diesmal von Blätterschatten betupft. Ein mächtiger Baum schlug seine Äste um sie. Offenbar befanden sie sich in einem kleinen Hain; Vince sah die gewölbten grünen Kronen der anderen Bäume, doch diese lagen etwas niedriger. Tourmaline und er standen auf einer Art Plattform. Diese Plattform, aus unbehobelten Brettern gefügt, war eine Scheibe von etwa zehn Yard Durchmesser. Sie stak wie ein Nest in der Gabelung dreier Äste, deren jeder so dick war wie Vincents Leib. In der Mitte war ein Loch, durch das der Stamm des Baumes ragte. Mehrere Leitern und Treppen aus schwarzem Schmiedeeisen führten offensichtlich zu den höheren Ästen des Baumes.
Es war das größte und kunstvollste Baumhaus, das Vince jemals gesehen hatte, und das sagte er auch.
„Ich benutze es schon eine ganze Weile“, meinte Tourmaline dazu, „aber ich bin seiner noch nie überdrüssig geworden.“ Sie schritt voran die Stufen einer Wendeltreppe hinauf, die um den Baumstamm lief. „Gehen wir in die Küche.“ Die Küche war eine zweite Plattform, deren eines Ende so weit herausragte, daß es vom hellen Sonnenschein überflutet wurde. „Möchten Sie etwas essen?“ fragte Tourmaline.
„Nein, mein Magen …“ begann Vincent automatisch, doch dann überlegte er es sich und stellte fest, daß er tatsächlich Hunger hatte. „Ja,
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