Eine Sünde zuviel
Sitzplatz im Raum außer dem Hocker, der hinter Salzer stand. »Hier wollte also Monika Horten leben! Finden Sie nicht, daß dies eine ungewohnte Umgebung für eine an sich reiche junge Frau ist?«
»Sie war Künstlerin.«
»Das habe ich heute schon oft gehört. Anscheinend haben die doch einen Tick.«
»Was wollen Sie?« Julius Salzer hatte sich gefaßt. Er konnte wieder klar denken. »Wollen Sie mich verhören?«
»Ja«, sagte Faber schlicht. »Das will ich. Wo waren Sie in der Nacht, in der Monika Horten verschwand? Hier?«
»Nein …«
»Wo?«
»In Soltau.«
»Ach. Und warum?«
»Ich erfuhr von dem Transporteur, daß Monika in Hannover geblieben war, um noch ihre Schwester zu sprechen. Sie wollte mit dem Zug nachkommen. Da bin ich nach Soltau gefahren, um sie von der Bahn abzuholen. Ich wollte sie überraschen. Aber sie kam nicht … ich habe bis zum letzten Zug gewartet …«
»Bis wann?«
»Bis gegen neun Uhr abends. Dann bin ich nach Hannover gefahren.«
»Was wollten Sie denn da?«
»Ich wollte zu Dahlmanns gehen und sehen, ob Monika noch dort war. Ich hatte ein unerklärliches Angstgefühl in mir. Ich habe manchmal diese Ahnungen … einmal habe ich einen Brand geträumt, der vier Tage später wirklich stattfand.«
»Das hätte genügt, Sie im Mittelalter zu verbrennen.« Ludwig Faber betrachtete Salzer kritisch. Ein netter, junger Mann, dachte er. Offen und ehrlich. Nach der Physiognomielehre des alten Lombroso mußte Salzer ein wahrer Engel sein. Aber Faber hatte schon Mariengesichter erlebt, hinter denen die Giftmörderin lauerte. »Was haben Sie in Hannover gemacht?«
»Was verliebte Jünglinge immer tun … ich habe Wache vor dem Hause der Dahlmanns bezogen.«
»Warum haben Sie nicht geschellt?«
»Ich … ich schämte mich …«, sagte Salzer leise.
»Sie hatten keinen Mut dazu?«
»Auch …«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Monika kam nicht heraus. Ich erfuhr ja erst später, daß sie schon längst weggegangen war. Herr Dahlmann fuhr noch einmal weg …«
»Ach! Der fuhr weg? In der Nacht?«
»Nein. Am späten Abend. Aber er kam bald wieder. Frau Dahlmann war ja auch diese Nacht auswärts … er war beim Polizeirevier …«
Faber nickte. Das stimmt, dachte er. Dahlmann hatte für jede Minute einen Beleg. Und ein Alibi, das die Polizei ausstellt, ist bestimmt sicher. Er sah Salzer wieder an und rümpfte die Nase. Es tat ihm leid, aber er mußte es sagen. In über dreißig Berufsjahren hatte er das Unmöglichste Wahrheit werden sehen.
»Sie haben also keinen Beleg, wo Sie nachmittags und die Nacht über gewesen sind?«
Salzer starrte Faber verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«
»Einen Zeugen!«
»Am Bahnhof von Soltau … wie sollte ich das? Wenn mich keiner der Beamten gesehen hat … oder die Bauern … Ich kann Ihnen keinen nennen …«
»Und in Hannover?«
»Noch weniger. Da stand ich dem Hause Dahlmann gegenüber in einer Türnische.«
»Also völlig ohne Alibi …«
»Wozu brauche ich ein Alibi?« Salzer starrte den dicken Faber groß an. »Sie haben doch nicht etwa den Verdacht, daß ich … ausgerechnet ich …«
»Mein Lieber … beim Militär sagte man: Ich habe schon Pferde kotzen sehen, und das vor der Apotheke … Es tut mir leid, aber der deutsche Beamte ist nun mal stur! Nehmen Sie Ihre Zahnbürste, waschen Sie sich noch einmal die Ohren, und dann kommen Sie mit …«
»Verhaftet …«, stotterte Julius Salzer. »Ich werde verhaftet!«
»Erschrecken Sie nicht! Sie können darüber ein neues Buch schreiben, wenn Sie wieder 'rauskommen. Aber im Augenblick steht es so, daß ich Sie mitnehmen muß!«
»Aber das ist doch völlig absurd! Ich liebe Monika, und gerade ich soll –«
»Sie sollen gar nichts, lieber Dichter! Es hat sich bei uns so eingebürgert, Verdächtige erst einmal zu verhaften und hinter Gitter zu bringen. Sicher ist sicher. Stellt sich ihre Unschuld hinterher 'raus, bekommen sie einen warmen Händedruck. Für Untersuchungshaft gibt es keine Entschädigung, falls Sie damit rechnen sollten. Jeder deutsche Staatsbürger hat sich so zu verhalten, daß er nicht verdächtig wirkt! Tut er es, ist er selbst schuld. Sie sehen – wir Beamten haben Nerven! Auch der dicke Faber. Also … können wir?«
»Ja …«
Salzer ging in den Nebenraum. Er packte ein Ersatzhemd ein, die Zahnbürste und ein Buch über das Leben Lord Nelsons. Dann gingen sie hinunter zum Wagen, wo der Sekretär und der Wachtmeister warteten, belauert von der Wirtin des
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