Eine Sünde zuviel
Skiera, fest. Es ist die feste Hülle des Auges.
Siri hatte den Trepan senkrecht auf das Auge aufgesetzt und drehte ihn unter mäßigem Druck. Als die Hornhaut an einer Stelle durchstoßen war, nahm er seine feinen Pinzetten und Scheren zu Hilfe und löste die trübe Scheibe vorsichtig aus.
Über dem OP-Tisch erlosch der Scheinwerfer. Draußen vor den großen Fenstern stand ein sonniger Tag. Es war hell genug, der Sehnerv sollte auf keinen Fall gereizt werden.
»Sie … Sie sind so schweigsam, Herr Professor …«, sagte Luise in die Stille hinein. »Stimmt etwas nicht?«
»Aber signora … welche Gedanken!« Siri lachte leise. »Jetzt kommt der nächste Akt der Feinmechanik … jetzt setzen wir das neue Fensterchen ein …«
Dr. Saviano hielt die Lidplatte mit dem Transplantat hin. Professor Siri brachte sie an den Rand der herausgestanzten Öffnung und schob den Hornhautpfropf mit einem Irisspatel langsam und mit unwahrscheinlicher Sicherheit auf den richtigen Platz. Die Scheibe paßte genau.
»Was jetzt kommt, ist wieder etwas Neues«, sagte Professor Siri ruhig. »Bisher wurden die Wunden der Hornhaut und der Skiera mit Seidenfäden oder mit Perlon vernäht. Aber Seide ist wasser- und luftdurchlässig, es kam immer wieder zu postoperativen Komplikationen, zu Infektionen vor allem, die alle Hoffnungen zerstörten. Ich benutze jetzt Metallklammern. Klammern aus Tantal. Wenn Sie das Instrument sehen könnten … wie eine kleine Pistole sieht es aus. Mit ihr mache ich jetzt eine feine, dichte Naht, die zudem noch den Vorteil hat, in keiner Weise die Augenhaut zu reizen. Feuer frei –«
Die Naht mit der neuen Maschine ging schnell. Dann klappte Siri den als Transplantatschutz gedachten Bindehautstreifen über die Operationsstelle.
In diesem Augenblick lief ein heftiges Zucken durch den Körper Luises. Ihr Kopf hob sich, obgleich Dr. Saviano und die OP-Schwester ihn umklammerten, die Beine und Arme zerrten in den Riemen. Dann brach es aus ihr heraus, ein heller Schrei, den auch die Abdecktücher nicht erstickten.
»Ich sehe Licht!« schrie sie. »Ich sehe Licht … Licht …«
Dann streckte sich der Körper mit einem lauten Seufzer. Luise Dahlmann sank in eine Ohnmacht.
Professor Siri deckte beide Augen ab und verband sie. Dr. Saviano injizierte bereits Cardiazol, um den Kreislaufschock aufzufangen. Siri sah auf die Uhr über den Instrumentenschränken.
»Acht Uhr dreiundvierzig«, sagte er. »Sie sieht wieder Licht … Giulio, es scheint gelungen zu sein –«
»Gratuliere, professore –«, sagte Dr. Saviano jungenhaft.
»Gratuliere!« Professor Siri stieg von seinem Zweistufenpodest hinab und öffnete den Kittel. Es war heiß im OP, draußen brannte die Sonne gegen die Scheiben. Die Operation war vorbei … aus dem feinnervigen Chirurgen wurde wieder der kleine Tyrann. »Als wenn das nicht selbstverständlich wäre! Die Visite fällt heute nicht aus! Und signora Dahlmann geben Sie ein Schlafmittel und kontrollieren ständig den Kreislauf. Gratuliere –« Siri schüttelte den weißmähnigen Kopf. »So was muß man sich sagen lassen –«
Mit schnellen Schritten rannte er aus dem OP. Dr. Saviano lächelte der OP-Schwester zu. Er war durchaus nicht betroffen.
»Der Chef ist selbst glücklich«, sagte er fröhlich. »Und in vierzehn Tagen wissen wir genau, ob die Hornhaut eingeheilt ist und sie für immer sehen kann –«
Mit einem weißen Laken zugedeckt, wurde Luise Dahlmann zurück in ihr Zimmer gerollt. Schwester Angelina wartete schon auf sie.
*
Vierundzwanzig Stunden sind keine lange Zeit. Im Alltag fliegen sie dahin … wenn man sie warten muß, werden sie lang, aber immer noch erträglich … Zur Ewigkeit werden sie, wenn man mit einer Binde über den Augen in einem Bett liegt und weiß, daß nach diesen vierundzwanzig Stunden die Binde fällt und es sich entscheidet, ob der erste Lichtstrahl wieder sichtbar ist, ob ein Gegenstand sich aus dem Licht schält, ob man erkennt und begreift, ob die Welt neu geboren wird –
Luise lag nach dem Erwachen still und mit gefalteten Händen auf dem Rücken. Wie lange sie geschlafen hatte, war nicht abschätzbar, bis Schwester Angelina das Essen brachte.
»Was gibt es heute mittag?« fragte Luise. Schwester Angelina tappte in die Falle.
»Das Abendessen besteht aus gefüllten Artischoken, signora«, sagte sie. »Dazu Cassata mit Sahne –«
Es war also Abend. Sie hatte den ganzen Tag geschlafen. Nun lag noch eine Nacht vor ihr … zwölf Stunden
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