Eine Sünde zuviel
Warten auf den Morgen, auf die Sonne, die Professor Siri ihr versprochen hatte und von der sie einen Schimmer gesehen hatte, nur einen einzigen Strahl, bis sie das schreckliche Gefühl empfand, ihr Herz bräche auseinander. Dann war wieder die Nacht gekommen. Das wohltätige Vergessen.
Ein ungeheurer, unbezähmbarer Drang überfiel sie, die Binde von den Augen zu nehmen oder sie nur ein klein wenig zu verschieben. Es war so einfach … man brauchte nur die Hand zu heben, ein kleiner Ruck … und man wußte, ob das Licht zurückgekehrt war oder die ewige Nacht bleiben würde.
Schwester Angelina ahnte diese Gedanken. »Tun Sie es nicht, signora«, sagte sie wie tröstend. »Ich weiß, wie schwer es ist, jetzt noch zu warten … bei allen war es so, die der Professor operiert hat. Aber sie alle waren nachher doch stark genug … bis auf zwei. Und beide verloren ihr Augenlicht wieder … da wurde der eine wahnsinnig, und der andere warf sich vor ein Auto …«
»Ich will ganz brav sein, Schwester«, sagte Luise wie ein getadeltes Kind. »Ich verspreche, nicht an der Binde zu rücken.«
Nach dem Essen bekam sie wieder eine Injektion. Sie schlief danach ein, auch wenn sie sich dagegenstemmte. Das Medikament war stärker als ihr Wille.
Sie erwachte und wußte plötzlich, daß es heller Tag war. Irgendwo spielte wieder das Radio, Schwester Angelina war im Zimmer und goß die Blumen. Luise hörte das Plätschern des Wassers aus der Gießkanne.
»Zweimal war Dr. Saviano schon da«, sagte Schwester Angelina und setzte sich auf Luises Bett. »Aber ich sollte Sie schlafen lassen, sagte er. Und ich werde ihn auch erst anrufen, wenn Sie gefrühstückt haben –«
Es war schon zehn Uhr, als Luise Dahlmann in das Arbeitszimmer Professor Siris geführt wurde. Siri saß wieder zwischen seinen Apparaten auf dem alten Stuhl, nur waren diesmal dicke Vorhänge vor den Fenstern und verhüllten den grellen Sonnentag. Dr. Saviano drückte Luise in einen Sessel und stellte sich hinter sie. Siri beugte sich vor und ergriff ihre Hände; sie waren kalt, als hätten sie auf Eis gelegen.
»Keine Angst haben, signora …«, sagte er gütig. »Ich will Ihnen sagen, was Sie gleich sehen –«
»Sehen –«, stammelte Luise.
»Sie werden nichts sehen –«
»Nichts …?«
»Keine Gegenstände. Nur Licht. Aber wenn Sie Licht sehen, wissen wir, daß alles gut geworden ist. Über Ihrer neuen Hornhaut, dem Fenster, das wir eingesetzt haben, liegt eine Bindehaut, die wir als Schutz über das Transplantat zogen. Es verschleiert noch das Bild Ihrer Umwelt. Jeden Tag werden wir jetzt Antibiotika aufträufeln, am achten Tag entfernen wir die Bindehautklappe, dann wird es wieder vierundzwanzig Stunden Nacht um Sie sein, denn so lange lassen wir das Auge wieder verbunden … und erst dann werden Sie Ihre Umwelt erkennen können. Richtig wissen, ob alles gelungen ist, ob die Hornhaut wirklich klar bleibt … das wird erst in neun Monaten sein. In dieser Zeit müssen wir gegen mögliche Entzündungen ankämpfen, mit Cortison, das wir erst aufträufeln und später direkt in die Bindehaut injizieren. Ja, und was ich noch sagen wollte: Übermorgen machen wir das gleiche mit dem anderen Auge … auch wenn Sie aus dem germanischen Deutschland kommen, lasse ich Sie nicht mit einem Auge wie Wotan herumlaufen –«
Siri rückte den Stuhl heran, Dr. Saviano löste die Binde, drückte sie aber noch gegen die Augen Luises.
»Schließen Sie bitte die Lider«, sagte Siri ruhig. »Und öffnen Sie sie erst, wenn ich es sage.«
Luise nickte schwach. In diesem Augenblick fiel die Binde. Ein Zittern lief durch ihren Körper, eine panische Angst, gleich die Augen öffnen zu müssen und nichts zu sehen. Professor Siri streichelte ihre eiskalten Hände.
»Ruhe, signora, seien Sie völlig ruhig.« Seine Stimme hatte etwas Suggestives, »öffnen Sie ganz langsam die Augen … ganz langsam …«
Luise Dahlmann hob die Lider. Als sie sie halb geöffnet hatte, durchzuckte es sie wie ein Schlag.
»Licht –«, stammelte sie. »Licht, Herr Professor … aber dumpf … ganz dumpf …«
»Die Vorhänge sind zugezogen. Wir sitzen in einem halbdunklen Zimmer. Sie sehen nur einen Schimmer von Licht –«
»Ja …«
»Und jetzt?«
Dr. Saviano hatte einen Vorhang um einen Spalt geöffnet. Wie hineingeschossen fiel ein Sonnenstrahl ins Zimmer.
»Heller –«
Professor Siri griff nach hinten. Er knipste eine gewöhnliche Taschenlampe an und hielt sie seitlich von Luise gegen
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