Eine Sünde zuviel
die Decke.
»Und jetzt?«
»Mehr Licht … ein Lichtbündel …«
»Wunderbar, signora. Giulio … Vorhang auf –«
Die Sonne flutete ins Zimmer, als Dr. Saviano mit großen Rucken die schweren Vorhänge wegritschte. Luise Dahlmann saß steif im Sessel, die Augen weit geöffnet … während das eine Auge noch trübe und tot war, lebte das andere, und das Licht spiegelte sich wider.
»Sonne –«, sagte sie kaum hörbar. »Es ist Sonne … Strahlende Sonne in einem Nebel …«
»Das ist die Bindehautklappe. In sieben Tagen ziehen wir auch diesen Schleier weg …«
Luise umklammerte die Sessellehne. Ihre Finger bohrten sich in den Bezug.
»Ich … ich kann wirklich sehen … Herr Professor … Ich kann wirklich …« Die Stimme versagte, ihr Kopf fiel nach vorn in die Hände Siris. Dann weinte sie, laut und haltlos, und Siri unterbrach sie nicht, hielt ihren zitternden Kopf mit beiden Händen, wie ein Vater, der sein trostsuchendes Kind umfängt. Dr. Saviano lehnte am Fenster und rauchte nervös eine Zigarette. Es waren jene Sekunden, die sowohl Siri als auch ihn immer wieder erschütterten, so viele hundert Male er sie auch bisher erlebt hatte. Immer war es die gleiche Ergriffenheit: Ein Mensch sieht wieder! Mit unseren Händen haben wir einen kleinen Teil der Schöpfung nachgemacht: Es werde Licht!
Nach einigen Minuten hob Professor Siri Luises Kopf wieder hoch und legte das Kinn auf einen Bügel. Mit einer kleinen Lampe, die einen dünnen Lichtstrahl wie aus einer Düse abschoß, untersuchte er das Auge und nickte zufrieden. Die Tantalnähte saßen gut, das Transplantat verhielt sich freundlich und zeigte keinerlei Anzeichen, daß es sich wieder abstieß. Da es aus einem frischen Auge kam, nicht aus einem konservierten, war es eine lebende Cornea, eine Homoioplastik, die sich mit der ihr fremden Zellumwelt erst vertraut machen mußte.
»So, und jetzt verbinden wir wieder die Augen, signora«, sagte Professor Siri und strich Luise über das zerwühlte Haar. »Und wir wollen so stark sein, daß wir erst richtig sehen wollen, wenn auch das andere Auge sein Fensterchen hat. Können wir so stark sein?«
»Ja, Herr Professor«, sagte Luise schluchzend.
»In vierzehn Tagen werden Sie mir sagen, welche Farbe die Blume hat, die ich Ihnen hinhalte –«
»Ich … ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll …«
»Bitte, hören Sie auf, signora.« Professor Siri erhob sich. Er wurde grob, und das bewies, daß er Angst hatte, seine innere Weichheit zu zeigen. »Da Sie in absehbarer Zeit wieder sehen werden, können Sie dann auch erkennen, daß wortreicher Dank unangebracht ist. Ihnen werden die Augen übergehen, wenn Sie meine Rechnung bekommen –«
»Das kann man nicht mit Geld bezahlen …«
»Bei mir schon! Guten Morgen!«
Professor Siri rannte hinaus. Luise wandte den Kopf zum Fenster. Hinter dem Nebel, durch den Lichtpunkte wie in einem wilden Kaleidoskop tanzten, sah sie einen Schatten auftauchen, der nicht verschwamm, sondern irgendwie Form hatte. Dr. Saviano trat auf sie zu.
»Nun ist er böse, nicht wahr?« sagte Luise Dahlmann leise.
»Keineswegs, signora.« Dr. Saviano band ihr wieder die Binde vor die Augen. Das Licht erlosch, die Nacht war wieder da, und sofort legte sich ein schwerer Druck auf ihr Herz, die erneute Angst, beim nächsten Abnehmen der Binde sagen zu müssen: Es ist wieder dunkel – »Der Herr Professor hat nur Angst, daß man entdecken könnte, er habe ein Herz. In seiner Klinik soll man ihn als Cäsar sehen … dabei liest er heimlich die verliebten Oden des d'Annunzio.« Er faßte Luise unter und führte sie aus dem Zimmer. Auf dem Gang zum Bettenflügel blieb er plötzlich stehen. »Was ich ganz vergaß, signora … wir müssen Ihrem Gatten von der gelungenen Operation berichten …«
»Nein! Bitte nicht!« Sie blieb ruckartig stehen. Dr. Saviano zog die Brauen hoch.
»Nicht? Aber –«
»Er soll es noch nicht wissen. Ich will ihn überraschen, wenn ich nach Hause komme. Plötzlich werde ich ins Zimmer kommen und zu ihm sagen: Ernst … du hast eine schöne blaue Krawatte an …«
Dr. Saviano lächelte etwas sauer. »Das wird sicherlich eine gelungene Überraschung werden, signora. Aber am besten ist, Sie sprechen darüber mit Professor Siri selbst … bisher ist aus der Clínica St. Anna noch keine heimlich Sehende entlassen worden –«
*
In den folgenden Tagen verlief alles planmäßig und ohne Komplikationen. Die zweite Operation am anderen Auge gelang auch. Es war
Weitere Kostenlose Bücher