Eine Sünde zuviel
getan?«
»Ich war so glücklich, daß dir nichts geschehen war … und ich liebte dich in diesem Augenblick so sehr …« Dahlmann sagte es zwischen zwei Kognakschlucken. Für eine Blinde klang es ehrlich, für die Sehende war es ein Schlag, denn Dahlmanns Gesicht war gleichgültig, als er es sagte, ja es schien, als wäre ihm die Erinnerung daran unangenehm und peinlich.
»Ich bin müde«, sagte Luise, »ich leg' mich hin.«
Tastend verließ sie das Zimmer. In der Diele hörte sie das Anschlagen des Telefonweckers … Dahlmann hatte den Hörer abgenommen und rief jemanden an. War es Monika? Wußte er schon, wo Monika sich versteckt hielt?
Sie schlich zurück zur Tür. Dahlmann sprach nach unten zur Apotheke und ließ sich von dem Provisor berichten. »Ja, ich komme gleich 'runter«, sagte er. »Bereiten Sie sich seelisch darauf vor, daß Sie drei Tage den Laden allein machen. Ich muß dringend verreisen –«
Verreisen? Luise schlich zurück ins Schlafzimmer. Wohin will er fahren …?
*
Der Gasthof ›Grüner Krug‹ war eine der großen Heidekaten außerhalb Soltaus am Rande der Einsamkeit, die man zu einem Hotel umgebaut hatte, ohne dem Modernen andere Konzessionen zu machen als elektrisches Licht, fließendes Wasser und die Einrichtung von Badezimmern. Allerdings gab es hier keine gekachelten Wände und eingebaute Porzellanwannen, sondern große, hölzerne Badezuber aus Urgroßvaters Tagen, in die man hineinstieg wie in ein Butterfaß und sich abschrubbte mit Wurzelbürste und harten Schwämmen.
Das Gasthaus ›Grüner Krug‹ hatte deshalb auch keinen Stern in den Reiseführern oder wurde in Handbüchern des Fremdenverkehrs auch nur erwähnt … wer hier wohnte, fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, in der man mit den Heidschnucken unter einem Dach hauste und beim Schein der Öllampe zwei oder drei Gläschen Schnaps trank, um die Nacht gut durchzuschlafen. Vor allem die Künstler besuchten den ›Grünen Krug‹; hier waren sie fast unter sich, lebten unbeschwert von Zivilisationsgeheuchel und hatten die nötige Ruhe, sich ihren Werken zu widmen. Von der Kunstakademie her kannte auch Monika Horten dieses Gasthaus bei Soltau, und so war es kein Zufall, daß sie bei ihrer Flucht aus dem Bannkreis Ernst Dahlmanns gerade hier ein Versteck suchte.
Schon am ersten Tag lernte sie einen großen, jungen, blonden Mann kennen, der in einem winzigen Zimmer unter dem Dach wohnte und nach dem Mittag- und Abendessen jeweils in der Küche half, das Geschirr zu spülen und abzutrocknen.
»Ich heiße Julius Salzer«, stellte er sich Monika vor, mit einer artigen Verbeugung und der Schlaksigkeit des Unbeholfenen. »Sie können auch Jules Salaire zu mir sagen … das ist mein Schriftstellername … nur kennt den noch keiner! Was nicht heißen soll, daß er nicht einmal in großen Lettern auf dicken Wälzern in den Schaufenstern der Buchhandlungen glänzen könnte. Nur hat sich leider noch kein Verleger gefunden, der a) einen jungen Unbekannten drucken will und b) den Mut hat, im Zeitalter der Abnormen ein Buch mit Romantik herauszugeben. Warten wir also ab … ich habe Zeit! Es wird sich herausstellen, ob ich hundert Jahre zu spät oder hundert Jahre zu früh geboren wurde.«
Monika lachte, obwohl ihr die Kehle zugeschnürt war. Die Angst hatte sie besinnungslos gemacht, und als sie wieder klar denken konnte, gab es nur eins für sie: Weg aus dem Hause Dahlmann, weg aus Hannover, weg aus dem Leben zweier Menschen, zu denen sie nicht mehr gehören durfte. Die schreckliche Erkenntnis, daß Luise sehen konnte, hatte ihr Inneres in völlige Panik gebracht. Jetzt erst, in dem kleinen Zimmer der Heidekate, wurde ihr bewußt, daß sie keine Schwester mehr hatte, kein Elternhaus, keine Heimat. Es waren Konsequenzen, die sie sich nie überlegt hatte, als sie dem Werben und Drängen Dahlmanns nachgegeben hatte und sich seiner Liebe bedingungslos hingab, von der auch sie glaubte, daß sie nicht mehr zu übertreffen sei und in ihrem Elementarischen auch gegenüber Luise zu rechtfertigen war. Eine solche Liebe wie unsere, hatte sie einmal zu Dahlmann gesagt, kann man einfach nicht verstehen, ist nicht mit den üblichen Maßstäben zu messen, ist keine Sünde, denn in uns werden Urkräfte wach, die noch niemand zu bändigen vermochte. Wie kann man schuldig sein, wenn man selbst das Opfer ist?!
Das alles war in der Nacht zusammengebrochen, als sie erkannte, daß Luise sehen konnte. Ihr blieb nur die Flucht; sie war Frau genug, um
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