Eine süße Versuchung für Marcy
dafür.“
„Vielleicht.“
Eric wollte das Gespräch beenden, ehe es eine Wendung nahm, die sie alle bereuen würden. Aber Dylan war bereits missgelaunt und aggressiv. Innerhalb von Sekunden war seine Stimmung umgeschlagen.
„Was wollt ihr denn hören?“, fragte er herausfordernd. „Dass meine Mutter mich nicht wollte und mit sechs Jahren zu Pflegeeltern gesteckt hat? Dass meine Pflegemutter im Januar gestorben ist und mein Vater mich nach der Schule hinausgeworfen hat? Wollt ihr hören, wie ich auf der Straße gelebt habe? Oder wie ich im Obdachlosenasyl bestohlen wurde und es mir keiner geglaubt hat? Oder soll ich von dem Kerl erzählen, der mich angemacht hat und mit mir ins Bett wollte? Deshalb bin ich nicht mehr in das Heim zurückgegangen. Auf der Straße war es sicherer. Oder in Parkanlagen oder Neubauten. Ich habe überall gepennt.“
„Dylan.“ Marcy trat einen Schritt näher.
„Das wolltet ihr doch wissen. Dann müsst ihr auch zuhören. Ich weiß, wo man kostenlos etwas zu essen kriegt. Das Einzige, was ich vermisst habe, waren Duschen. Ich habe mich auf öffentlichen Klos gewaschen. Manchmal habe ich einen Tag lang Arbeit gehabt. Da musste man schon schnell sein, um so einen Job zu bekommen. Hundert andere wollen den nämlich auch. Ein paar Leute haben schließlich gemerkt, dass ich gut arbeiten kann, und mich immer wieder genommen.“
Er wandte sich an Eric. „Ihr Haus war nicht gerade der gemütlichste Platz zum Übernachten. Es war verdammt heiß hier drin, und ich habe mich nicht getraut, ein Fenster zu öffnen – selbst nachts nicht. Aber wenigstens war es sicher. Ich konnte schlafen, ohne die ganze Nacht aufpassen zu müssen. Sie haben ja keine Ahnung, was es heißt, kein Auge zutun zu können, weil man auf seine Sachen und sich selbst achten muss. Hier dagegen hatte ich meine Ruhe …“
„Hast du um deine Mutter getrauert?“, wollte Marcy wissen.
„Nein. Ja. Ein bisschen.“ Seine Stimme klang rau. „Dad überhaupt nicht. Deshalb konnte ich auch nicht mit ihm über sie reden. Sie wäre wohl stinksauer auf ihn gewesen, wenn sie wüsste, dass er mich auf die Straße gesetzt hat. Und manchmal …“
Ratlos fuhr er sich mit den Fingern durch seine neue Frisur. „Manchmal wünschte ich mir, er wäre gestorben, und sie würde noch leben. Meine Mutter und ich wären ganz gut zurechtgekommen. Reicht das jetzt – oder wollt ihr noch mehr hören?“
Er klang gequält und verletzt, und kaum hatte er die letzte Frage gestellt, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte die Treppe hinauf. Laut fiel die Tür seines Zimmers ins Schloss.
Eric konnte ihn gut verstehen. Nach dem Tod seiner Eltern war er ebenfalls wütend gewesen. Finanziell hatte er zwar besser dagestanden als der Junge, aber ihm war auch keine Zeit zum Trauern geblieben. Zu einer Zeit, in der andere Jugendliche um ihre Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, musste er stark sein und Verantwortung für seine jüngeren Geschwister übernehmen.
Natürlich hatte er sich vor den anderen nichts anmerken lassen. Man hatte ihm zwar gesagt, dass es ihm besser gehen würde, wenn er seine Gefühle nicht unterdrückte. Aber ihm ging es besser, wenn er alles mit sich allein abmachte.
Dennoch bereute er nichts. Seine Geschwister waren glücklich und selbstständig. Das war es schließlich, worauf es ankam.
Marcy schluchzte leise. Er wollte sie nicht trösten, auch wenn das ziemlich herzlos war. Er fühlte sich selbst zu verletzt. Wenn er jetzt Verständnis für sie zeigte, öffnete er möglicherweise seine eigenen Schleusen.
Deshalb legte er nur kurz die Hand auf ihre Schulter, ehe er Dylan nach oben folgte. Er klopfte an seine Tür, wartete aber nicht auf eine Antwort. Dylan lag auf seinem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben.
Eric setzte sich neben ihn. „Ich kann mir vorstellen, dass das schwer war, aber ich bin froh, dass du es uns erzählt hast. Es tut mir wirklich leid, dass du deine Mutter verloren hast. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“
Dylan schwieg.
„Ich mache dir einen Vorschlag“, fuhr Eric fort. „Du solltest deinen Arm noch zwei Tage schonen. In der Zeit könntest du dich nach einer anderen Arbeit umsehen. Wenn du einen Job hast, helfe ich dir, einen billigen Wagen zu finden. Ich leihe dir das Geld. Auch für die Versicherung.“
Dylan hob den Kopf. „Ist das Ihr Ernst?“
Eric nickte. „Wir machen einen Vertrag, und du zahlst mir das Geld nach und nach zurück – so, wie du es kannst. Fürs Erste
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