Eine Tankstelle fuer die Seele

Brief aus dem Jahr 1950 schrieb: »Man muss nämlich selber in die Phantasie eintreten und die Figuren zwingen, Rede und Antwort zu stehen.« Der junge Mann in ihrer Vorstellung erklärte ihr, dass sie selbst zu oft kein Ziel habe, das ihr wirklich etwas wert sei. Dieses Ziel könnte durchaus einfach nur sein, Zeit für sich zu haben, zu lesen oder nichts zu tun. So sei sie immer offen für die Ziele anderer und bereit, deren Erfüllung zu unterstützen. So käme sie – führte der Held weiter aus – gar nicht auf die Idee, ihre eigenen Wünsche und Ziele wahrzunehmen und wertzuschätzen. Diesen inneren Dialog mit ihrem Helden führte die Klientin über Monate fort und bekam viele wichtige Informationen über die Hintergründe ihres Verhaltens. Dadurch wurde sie achtsamer, wenn Forderungen von außen kamen, reagierte nicht mehr sofort, sondern ließ sich Zeit, bis sie eine Entscheidung treffen konnte.

Die Reise ins Reich der Archetypen
    In meiner täglichen Arbeit mit Musik zeigen sich oft deutliche Unterschiede zwischen dem, was zum Beispiel der Klient als Ursache seines Problems beschreibt, und dem, was sich zeigt, wenn er sich auf eine Reise in sein Inneres einlässt. Logische Begründungen, warum man immer wieder mit diesem oder jenem Problem zu tun hat, stehen den Informationen, die aus der inneren Tiefe kommen, manchmal fast unvereinbar gegenüber.
    Beispiel: Eine Klientin leidet darunter, dass ihre Mutter sie nicht loslässt, sie bei jeder Kleinigkeit anruft oder mit ihren Sorgen belastet. Sie habe die Mutter längst losgelassen und wäre froh, wenn der Kontakt nicht so intensiv sei, beschreibt sie das Problem. Während der Musikreise tauchen Bilder und vor allem Gefühle auf, die zeigen, wie sehr sie sich immer noch die Anerkennung und Liebe ihrer Mutter wünscht und damit auch zwangsläufig einen engen Kontakt sucht. Bei einer weiteren inneren Reise tauchen Bilder aus der Kindheit auf, in denen die Mutter immer distanziert wirkt und die Klientin sich als kleines Kind völlig verloren empfindet. In den folgenden Gesprächen stellt sich heraus, dass sich meine Klientin erst ab dem Zeitpunkt von ihrer Mutter wahrgenommen und wertgeschätzt gefühlt hatte, als sie ihr in einer schwierigen Situationen zur Seite stehen konnte und sich damit als wertvolle Ratgeberin gezeigt hatte. »Da konnte dann mein Bruder, ›Mutters Liebling‹, nicht mehr mithalten«, so ihre Worte. Immer mehr konnte sie sehen, wo ihr Anteil an dieser Verstrickung mit der Mutter lag.
    Wie kommt es, dass wir glauben, etwas richtig zu erkennen und zu beurteilen und dann feststellen müssen, dass wir durch Träume oder Informationen aus dem Inneren, wie wir sie durch Visualisierungen, Musikreisen oder Meditation erhalten, eines anderen belehrt werden? Ganz offensichtlich gibt es neben dem, was wir als Bewusstheit oder Bewusstsein bezeichnen, noch etwas anderes, nämlich das Unbewusste. C.G. Jung sah in diesem riesigen Bereich des Unbewussten nicht nur eine Sammelstätte von verdrängten Trieben, Wünschen oder Frustrationen, sondern vor allem eine verborgene Quelle, aus der der Mensch lebenslang schöpfen kann. Meine Klientin stieß also auf ihrem inneren Weg nicht nur auf verdrängte Kindheitserinnerungen und Verletzungen im Zusammenhang mit ihrer Mutter, sondern auf ein großes Potenzial an Liebesfähigkeit. Das Verhältnis zu ihrer Mutter besserte sich zusehends, und Mutter und Tochter haben jetzt eine neue Ebene gefunden, auf der sie sich begegnen.
    Der Begriff »Unbewusstes« bezeichnet jene Inhalte, die nicht oder noch nicht bewusst sind oder die nie bewusst werden. Dabei wird zwischen dem persönlichen und kollektiven Unbewussten unterschieden. Das persönliche Unbewusste umfasst dabei diejenigen Inhalte und Vorgänge, die auf die individuelle Persönlichkeit bezogen sind. Die Komplexität dieses inneren Geschehens, bezogen auf den gesamten Bereich des Unbewussten, entzieht sich allerdings – zumindest für mich – der genauen Festlegung. So kann ich sie letztlich einfach nur als Dynamik anerkennen, die unser Leben in einem viel größeren Maße beeinflusst, als wir gemeinhin glauben. Dennoch halte ich es für notwendig, noch ein wenig auf die einzelnen Begriffe einzugehen, um die große Bedeutung der Arbeit mit archetypischen Bildern zu verdeutlichen. Zunächst eine Annäherung an den Begriff des kollektiven Unbewussten:
    Das kollektive Unbewusste
    Mit kollektivem Unbewussten wird die allen Menschen zugrunde liegende psychische