Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
als Erwachsene wiedererkennt. Ich vermute da eher eine Ähnlichkeit mit einer anderen Person, die Assoziationen bei ihr auslöst."
"Aber was will diese Frau von uns? Ihr Verhalten ist schon eigenartig."
"Bevor man nach komplizierten Erklärungen sucht, sollte man es immer erst mit der einfachsten versuchen", meinte Ruth. "Melissa sagte doch, sie hätte die Frau selbst ein wenig zu lange gemustert. Könnte dieser Blick nicht falsch verstanden worden sein? Als Interesse zum Beispiel? Diese Frau scheint sozial isoliert zu sein, niemanden zu haben, der ihr beispielsweise raten würde, sich vorteilhafter zu kleiden. Sie sucht vielleicht nach Zuwendung, eventuell sogar erotischer Natur. Melissa hat eine Art von Schönheit, die auch Frauen anzieht und nun beobachtet die Unbekannte sie und wagt nicht, sie anzusprechen."
Diese Argumentation leuchtete mir ein. "Und mich behält sie im Auge, weil sie mich zusammen mit Melissa gesehen hat. Stalker erkunden ja bekanntlich gern auch das Umfeld ihrer Opfer. Das hat gerade noch gefehlt. Mein Bedarf an Stalking-Fällen ist eigentlich gedeckt."
"Man kann sich das leider nicht immer aussuchen", seufzte Ruth.
Ich musste Melissa nicht vorschlagen, eine Pause einzulegen. Der Wunsch kam überraschenderweise von ihr selbst.
"Thorald will mit mir für ein paar Tage nach Florenz fahren", schwärmte sie mir vor. "Ich habe mir schon lange gewünscht diese Stadt mit all ihren großartigen Kunstwerken zu besuchen und nun bekomme ich tatsächlich die Gelegenheit dazu. Ich freue mich so sehr darauf."
Melissa erklärte mir, dass Thorald zu einem Treffen mit ehemaligen Studienkollegen fahren wolle. Sie trafen sich alle zwei Jahre und immer an besonderen Orten, diesmal nun also in Florenz. Ein bisschen wunderte ich mich schon über ihre Ankündigung. Zwar akzeptierte ich die offene Ehe von Professor Tietze-Mühlberger, doch dass er zu so einem Treffen statt der Ehefrau die Geliebte mitnahm, fand ich nicht so selbstverständlich. Melissa schien meine Gedanken erraten zu haben.
"Normalerweise begleitet ihn zu diesen Treffen seine Frau, schließlich kennt sie die Kollegen auch. Aber sie kann wegen eines anderen Termins nicht weg und da hat Thorald vorgeschlagen, dass ich ihn begleiten kann. Bei dem eigentlichen Treffen will ich gar nicht dabei sein. Ich mache inzwischen mein eigenes Programm, während Thorald seine Freunde trifft. Wir hängen dann anschließend noch zwei Tage für uns allein dran. Aber die Zeit wird trotzdem nicht ausreichen, um alles zu besichtigen."
Ich konnte Melissas Begeisterung schon verstehen. Im vergangenen Jahr hatte ich in Berlin die Ausstellung Gesichter der Renaissance besucht und war total begeistert gewesen. Nun würde Melissa also die Wiege der Renaissance aufsuchen und wer passte besser an diesen Ort als sie?
"Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du auch wie eine Dame aus der Zeit der Renaissance aussiehst?", fragte ich sie.
"Einmal?", Melissa lachte. "Ich bin seit Jahren mit Menschen zusammen, die sich mit Malerei befassen. Da habe ich das ständig zu hören gekriegt. Aber ich kann mir wegen dieser Ähnlichkeit doch nicht die Nase abschneiden."
Ich hatte Melissa noch nie so glücklich gesehen.
30.
Zwei Tage später kam die große Hitze. Obwohl wir erst Anfang Juni hatten, fühlte es sich wie Hochsommer an. Bereits auf dem Weg in die Praxis war ich frühmorgens von einem Hitzegewitter überrascht worden. Ich schaffte es gerade noch ins Haus zu kommen, bevor ein heftiger Regenguss einsetzte. Nach nur 10 Minuten war der Spuk vorbei und am Himmel spannte sich ein prächtiger Regenbogen. Abkühlung hatte das Gewitter jedoch nicht gebracht. Das Thermometer kletterte unaufhaltsam und die Luft wurde unerträglich schwül.
Ich hatte an diesem Tag keine Patienten bestellt, weil ich noch ein paar dringende Büroarbeiten erledigen und danach in die Bibliothek fahren wollte. Alles dauerte länger als geplant und gegen Mittag überlegte ich, ob ich den Besuch der Bibliothek nicht aufschieben sollte. Zwar sehnte ich mich nach der Kühle dort, doch mir graute vor der Fahrt in der vollen, heißen S-Bahn.
Ich ging in die Küche, nahm mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank und schaltete das Radio ein. Ein Regionalsender brachte Nachrichten, ich hörte nur mit halbem Ohr hin. " ... verletzte eine Frau einen im Kinderwagen liegenden Säugling absichtlich. Das Kind und die unter Schock stehende Mutter wurden in ein Krankenhaus gebracht, die Täterin von
Weitere Kostenlose Bücher