Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
ich in meiner Verfolgerin die junge Frau wieder, die Melissa aus irgendeinem Grunde erschreckt hatte, doch gleichzeitig stieg in mir das Gefühl auf, sie noch in einem anderen Zusammenhang getroffen und sogar gesprochen zu haben.
"Vermutlich bin ich einfach überarbeitet", sagte ich mir, als die Frau plötzlich stutzte und in meine Richtung starrte. Ob sie mich durch das Schaufenster gesehen oder nur begriffen hatte, wohin ich verschwunden sein musste, auf jeden Fall veranlasste es sie, eilig davon zu stürzen.
Ich konnte mir auf ihr Verhalten absolut keinen Reim machen.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, die Frau anzusprechen, doch nachlaufen wollte ich ihr auf keinen Fall. Vielleicht ergab sich ja noch einmal eine andere Gelegenheit.
29.
Die nächste Sitzung mit Melissa nahm einen dramatischen Verlauf. Zu Beginn hatten wir wie immer die letzte Stunde ausgewertet. "Dieses dunkle Haus und die schwarz gekleideten Menschen haben etwas mit dem Tod zu tun. Das Gefühl, das mich dabei überfällt, ist nicht nur Angst. Es ist auch eine lähmende tiefe Traurigkeit. Vielleicht ist es eine Beerdigung ..." Sie schwieg nachdenklich.
Meine Gedanken hatten sich in eine ähnliche Richtung bewegt, doch ich wollte sie nicht beeinflussen.
"Versuchen wir es noch einmal mit der Hypnose?", fragte Melissa beherzt. "Ich muss dieses Haus von außen sehen, irgend etwas wiedererkennen. Dann werde ich mich bestimmt erinnern. Ich will über diesen Punkt hinwegkommen."
Wieder versank sie so unkompliziert und tief in Trance wie in ein vertrautes, ureigenes Element. Diesmal hielt sie sich nicht lange in dem bedrückenden Zimmer auf, sondern begab sich gleich auf den Hof.
"Sieh dich gut um", sagte ich. "Kannst du irgendwo eine Tür sehen?"
"Da ist die Pforte", murmelte sie. "Aber die ist bestimmt zu, und verboten ist sie auch."
"Sieh nach, ob sie wirklich zu ist!", forderte ich sie auf.
"Es ist offen", sagte sie und machte sich daran hindurchzugehen. Plötzlich erstarrte sie und begann heftig zu zittern, ihre Zähne schlugen aufeinander.
"Was siehst du?", fragte ich, aber meine Stimme schien sie nicht zu erreichen. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei und brachte doch keinen Ton heraus. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, dass ein Patient in Trance solchen Schrecken durchlebte.
"Melissa dreh dich um! Du bist nicht allein. Ich bin bei dir und ich werde dich in Sicherheit bringen. Hier ist meine Hand. Hörst du mich, Melissa?"
Wieder antwortete sie nicht, doch als ich ihre Hand berührte, umklammerte sie krampfhaft meine Finger.
"Ich werde jetzt von 7 aufwärts zählen. Mit jeder Zahl schreitest du ein Jahr auf deinem Lebensweg voran." Ich zählte bis 22. "Du bist 22, Melissa. Du bist hier in meinem Zimmer. Du bist in Sicherheit und es geht dir gut. Öffne jetzt die Augen."
Sie sah mich an, wirkte aber noch immer verwirrt und völlig verängstigt. Zum Glück hatte mein nächster Patient abgesagt, so dass ich mir Zeit für sie nehmen konnte. Nur allmählich gelang es mir, sie zu beruhigen. Ich war erleichtert, als sie endlich zu reden begann. "Ich habe den Turm gesehen", flüsterte sie panisch. "Ich habe den Turm gesehen."
Der Turm war für Melissa das Sinnbild eines Schreckens, den sie nicht näher zu beschreiben vermochte. "Es muss etwas Entsetzliches in diesem Turm geschehen sein. Er ist immer da gewesen in meinem Kopf, meine ich. Seit ich denken kann, male ich Bilder von Türmen und fürchte mich vor ihnen. Aber jetzt weiß ich, dass dieser Turm existiert. Er ist da, hinter dem dunklen Haus und wartet auf mich. Doch ich kann mich ihm nicht nähern. Ich würde vor Angst sterben."
Diese Hypnosesitzung war auch für mich eine neue Erfahrung gewesen, die mich verunsicherte. Ich war froh, sie gemeinsam mit Ruth auswerten zu können.
"Sie ist ganz nah an einem schweren Trauma dran, das ihr Leben überschattet", meinte Ruth. "Zweifellos wird sie sich bald daran erinnern. Doch es belastet sie noch zu sehr. Sie braucht eine Pause."
Ich stimmte ihr zu, obwohl ich nicht wusste, wie ich es Melissa vermitteln sollte. Dann brachte ich das Gespräch auf die merkwürdige junge Frau, die Melissa und mich verfolgte. "Melissa sieht in ihr eine Person aus ihrer Vergangenheit, die sie lediglich nicht zuordnen kann. Aber ihr Auftreten löst jedes Mal Panik bei ihr aus."
Ruth hatte ihre Zweifel. "Wie alt hast du sie geschätzt? Zwischen 20 und 30? Dann wäre sie damals auch noch ein Kind gewesen und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Melissa sie
Weitere Kostenlose Bücher