Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
Gerlach seufzte tief. "Das ist es ja gerade. Ich habe unsere Beziehung offiziell für beendet erklärt. Seitdem verfolgt sie meine Frau. Ganz besonders dann, wenn sie unsere Tochter ausfährt. Meine Frau traut sich kaum noch mit der Kleinen raus. Sie hat Angst, dass Frau Stammer das Kind entführen oder ihm etwas antun will. Sie müssen unbedingt etwas unternehmen."
"Ich sagte Ihnen doch schon, dass Frau Stammer nicht mehr meine Patientin ist und ich deshalb überhaupt nichts tun kann."
"Doch, das können Sie. Ich werde mit Frau Stammer ein neues Gespräch vereinbaren und mich an alles halten, was Sie vorschlagen, wenn Sie die Frau nur dazu bringen, die Finger von meiner Frau und meinem Kind zu lassen."
"Herr Gerlach, es wird kein weiteres Gespräch geben ..."
Er unterbrach mich aufgeregt: "Ich verstehe ja, dass Sie sauer sind und ich entschuldige mich auch ..."
Diesmal unterbrach ich ihn. "Um mich geht es dabei nicht und persönliche Gefühle wie Gekränktheit haben schon gar keine Rolle zu spielen. Das Problem ist, dass ich bei Frau Stammer jede Autorität und Glaubwürdigkeit verloren habe. Sie hat mich ausgetrickst und vorgeführt, sie fühlt sich mir haushoch überlegen. Deshalb habe ich keinen Einfluss mehr auf sie und kann Ihnen nicht helfen. Wenn Sie sich ernsthaft bedroht fühlen und sogar eine Gefährdung für Ihr Kind sehen, ist das ohnehin kein Fall für den Psychologen mehr, dann sollten Sie schnellstens zur Polizei gehen."
Herr Gerlach begriff, dass er mich nicht würde umstimmen können. Aber völlig aufgeben wollte er deshalb auch nicht. "Geben Sie mir dann wenigstens einen Termin für mich? Ich möchte mich für eine private Therapie anmelden."
Das konnte ich ihm schlecht verweigern, obwohl mir natürlich klar war, worin seine Absicht bestand. Er glaubte mir seine Probleme mit Frau Stammer schon irgendwie überhelfen zu können, wenn er erst einmal offiziell mein Patient wäre. Allerdings würde er sich in Geduld üben müssen. Wir hatten jetzt Anfang Mai, in der zweiten Augustwoche würde ich meinen Urlaub antreten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sämtliche Termine ausgebucht. Neue Patienten konnte ich erst wieder im September aufnehmen. Herr Gerlach zeigte sich darüber sehr enttäuscht, erklärte sich aber schließlich mit dem Termin im September einverstanden. Wie ein geschlagener Mann verließ er die Praxis, mein nochmaliger Hinweis, sich notfalls an die Polizei zu wenden, schien ihn nicht wirklich zu erreichen.
Ruth zeigte sich fassungslos, als ich ihr von dem Gespräch berichtete. "Ist der Mann tatsächlich derart naiv?", fragte sie kopfschüttelnd. "Oder spielt er sein eigenes Spiel und schreit nun nur um Hilfe, weil er den Bogen überspannt hat? Egal wie die Dinge liegen, du hast dich jedenfalls richtig verhalten. Der Hinweis auf die Zuständigkeit der Polizei war völlig korrekt. Du hättest ihn nicht einmal unbedingt als Patienten annehmen müssen, denn von einem Vertrauensverhältnis kann ja zwischen euch im Moment nicht die Rede sein. Wer weiß, was für Leichen der sonst noch im Keller hat."
Genau das war auch meine Befürchtung, trotzdem gab ich mich zuversichtlich. "Bis September ist noch viel Zeit, vielleicht klärt sich bis dahin ja einiges. Hoffentlich in positiver Weise."
Ruth blieb skeptisch. "Hältst du es für möglich, dass Frau Stammer gefährlich wird? Ich meine, dass sie jemandem ernsthaften Schaden zufügt?"
Ich musste zögernd zugeben, es zumindest nicht ausschließen zu können. Hatte sie sich nicht damit gerühmt, ihren Mann gelegentlich zu schlagen? Und natürlich wusste ich auch, dass Stalker erst dann richtig unangenehm werden, wenn sie sich in ihrem Liebesverlangen enttäuscht sehen. Was Frau Stammer bisher betrieben hatte, war ein sogenanntes romantisches Stalking gewesen, mit Liebesbriefen, Anrufen, Bitten um ein Treffen. Das war zwar unangenehm, aber zum Glück noch nicht gefährlich. Diese Form des Stalking macht den geringsten Prozentsatz aller Fälle aus. In den meisten geht den Tätern hingegen darum, dem Opfer zu schaden, es zu ängstigen und zu demütigen. Diese Gruppe besteht zum größten Teil aus Ex-Partnern und abgewiesenen Liebhabern. Wenn Wolfgang Gerlach das Verhältnis zu Frau Stammer nun tatsächlich beendet hatte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie sich zu der zweiten Gruppe gesellte.
"Hör auf zu grübeln!", sagte Ruth jetzt. "Du hast dein Möglichstes getan, also mach es jetzt nicht zu deinem Problem."
Mich daran zu halten
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