Eine Trillion Euro
auf Pflaster. Ich raste los, die schreckliche Angst im Nacken, ich könnte auf der anderen Seite auf ein weiteres Fahrzeug oder eine Gruppe Organdiebe treffen. Glücklicherweise hatten unsere Verfolger nicht die Zeit gehabt, beide Ufer zu besetzen. Ich rannte noch schneller und warf mich in die Finsternis jenseits der Brücke, in der Steff bereits verschwunden war.
»Hierher, Pibe!«
Ich folgte ihr in ein Labyrinth von Ruinen. Erst nachdem wir die Furt aus Steinen und Metallverstrebungen hinter uns gebracht hatten, die die Île de la Cité mit dem jenseitigen Ufer verband, blieben wir wieder stehen. Auf dem Vorplatz einer in Schutt und Asche liegenden Kirche versuchten wir, zu Atem zu kommen und unsere fünf Sinne zu sortieren.
»Wer war das, was meinst du? Menschenmetzger?«
»Ich würde eher sagen, eine Brigade der Jihad.«
»Dann hätten wir also nicht wie die Irren weglaufen müssen?«
Der schräge Blick, den sie mir zuwarf, traf mich bis ins Mark.
»Ich weiß nicht, ob du es schon gemerkt hast, Pibe, aber ich bin ein Mädchen. Die Typen vom PJ können es nicht ausstehen, wenn sich Frauen draußen rumtreiben. Schon gar nicht mitten in der Nacht. Und vor allem nicht ohne Schleier. Wenn die mich kassiert hätten, hätten sie mich … hätten sie mich … verstehst du?«
Ich nickte nur.
»Soll ich dir mal was sagen Steff: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Angst, die ich gerade ausgestanden habe, wirklich eine Tri … Trillion Euro wert ist.«
Sofort bereute ich, den Satz ausgesprochen zu haben, aber die Worte waren aus meinem Mund geflattert wie besoffene Schmetterlinge, und ich konnte sie nicht zurückholen. Sie strich mir über den Schädel, den ich alle drei Tage rasiere, um Läusen und anderem Ungeziefer den Nährboden zu entziehen. Die Zärtlichkeit ihrer Geste verblüffte mich.
»Möchtest du wirklich den Rest deines Lebens in so einem Dreckloch verbringen, Pibe? Wahrscheinlich ist das unsere einzige Chance, hier rauszukommen.«
»Und wohin sollen wir gehen?«
»So weit weg wie möglich.«
Endlich sahen wir Licht. Eine geradezu verschwenderische Lichtfülle erhellte die Straßenzüge, lag auf Häuserfassaden und strömte aus Geschäften. Wir hatten Montparnasse erreicht, die geschützte Stadt, die Zone, wo wir weder etwas kaufen noch etwas verkaufen konnten. Leute wie wir existierten hier schlichtweg nicht. Uns fehlte der in den Handrücken eingepflanzte biologische Chip, der gleichzeitig als Personalausweis, Scheckkarte und Zugangsberechtigung diente. Zwar hätten auch wir laut europäischem Recht nach Anlage einer Akte über uns einen Chip erhalten können, doch in der Praxis gab es so gut wie keine Verwaltungsgebäude mehr, und eine Verwaltung selber erst recht nicht.
Montparnasse wimmelte Tag und Nacht von Menschen. Hier bekam man jede Droge, die man sich vorstellen konnte, alle Arten von Prostituierten und gigantische Spielhöllen, wo die Spieler auf Pferde, Kriege und Naturkatastrophen wetten konnten. Strom gab es immer, denn die Zone besaß ein von Hunderten Männern rund um die Uhr bewachtes Atomkraftwerk.
Wir betraten die hell erleuchteten Bürgersteige. Das Wasser in den Rinnsteinen glitzerte.
»Wenn wir nicht bemerkt werden wollen«, flüsterte Steff, »müssen wir in der Menge untertauchen.«
Obwohl Lärm und Licht Menschenmetzger und andere zwielichtige Gestalten abschreckten, waren wir auch in Montparnasse nicht wirklich in Sicherheit. Sollte ein mit Drogen voll gepumpter oder alkoholisierter Zonenbewohner das Bedürfnis verspüren, sein Magazin in unsere Bäuche zu entleeren, würde ihn niemand daran hindern – weder Passanten noch Milizen, noch die Überreste von Europol. Wir ZLs galten nicht als legale Existenzen und waren nicht mehr wert als eine Ratte. Diejenigen unter uns, die es in der Zone mit Prostitution versucht hatten, waren fast immer von einem Schwachsinnigen erwürgt, aufgeschlitzt oder in Stücke geschnitten worden.
Geblendet von blinkender Leuchtreklame drückten wir uns an den Schaufenstern entlang. Eine schwarze Nutte, die an einer Toreinfahrt lehnte und eine in Goldpapier gewickelte Zigarette rauchte, musterte uns mit abwesendem Blick. Hier bekam man keine Geldscheine zu Gesicht, wie in den anderen Vierteln. Ein Handschlag und ein paar Worte genügten, und Tausende von Dollüans wechselten Konto, Bank oder Kontinent. Ein einziges Mal nur hatte ich eine Dollüan-Note gesehen. Der Dollüan war die Währung der chinesisch-amerikanischen Achse, die
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