Eine unbegabte Frau
und sie mit kindlichem Vergnügen plötzlich zu erschrecken, sie freundschaftlich mit einem Hagel von Kieselsteinen zu empfangen oder andern Unfug zu treiben. Gladys gab den Versuch, eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten, bald auf, zumal im Laufe des Nachmittags diese kindlichen Privatunternehmungen immer seltener wurden. Bald hingen vier kleine Kerle an ihrem Mantel und jammerten, wie müde sie seien, und ob sie nun alle gleich wieder nach Yang Cheng zurückgingen? Gladys und die älteren Jungen nahmen sie abwechselnd auf den Rücken. Gladys selbst fühlte sich auch durchaus nicht sonderlich frisch nach ihrer Flucht von Tsechow nach Yang Cheng.
Es wurde bereits dunkel, als sie ein Bergdorf erreichten, das Gladys kannte und in dem sie für die Nacht irgendwie Unterkunft zu finden hoffte. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich — dachte sie besorgt —, daß ein Hausherr sich darum reißen wird, hundert lärmende schmutzige Kinder aufzunehmen! Von unerwarteter Seite kam Hilfe. Ein alter buddhistischer Priester in safrangelben Gewändern stand gerade auf den Stufen des Tempels, als die Rattenfängerin von Yang Cheng mit ihrer Schar vorüberzog.
»Wo wollen Sie denn hin?« rief er Gladys zu.
»Wir sind Flüchtlinge auf dem Weg nach Sian«, antwortete sie.
Er kam die Stufen herab, seine kleinen Augen waren in dem zerknitterten Gesicht voller Falten und Furchen kaum zu sehen.
»Aber, Frau, was haben Sie denn mit all diesen Kindern vor!« Fast klang es ärgerlich.
»Ich suche gerade einen Platz, wo wir heute nacht schlafen können.«
»Dann könnt ihr im Tempel bleiben«, sagte er kurz. »Alle meine Priesterbrüder sind fort, Platz ist also genug da. Sagen Sie der kleinen Gesellschaft, sie soll hereinkommen. Wärmer als in den Bergen ist es auf jeden Fall.«
Die Kinder brauchte man nicht erst zu überreden. Das war ja ein Abenteuer, wie sie es sich gewünscht hatten! Im Tempel war es dunkel, überall sah man in düstere Winkel, in denen Steinfiguren des dicken, milden Buddha mit den halbgeschlossenen Augen thronten. Gemalte Holztafeln gab es, welche die mannigfachen Qualen der buddhistischen Hölle darstellten — aber die Kinder waren viel zu müde, um sie anzuschauen. Alle umstanden erwartungsvoll den eisernen Topf; als Gladys die Hirse fertiggekocht hatte und als alles verteilt und vertilgt war, rollte sich jedes auf seiner Matte zusammen und schlief ein.
Gladys konnte nicht so schnell Ruhe finden: der Tempel wimmelte von Ratten, die in der Dunkelheit pfiffen und über die Schlafenden hinwegliefen. Außerdem aber begann ein leiser, schleichender Zweifel sie zu quälen — ein Zweifel, ob es nicht unüberlegt gewesen sei, diese Reise mit so vielen Kindern zu unternehmen. Überschätzte sie nicht doch ihre Fähigkeiten? Allein die Berge durchqueren — warum nicht? Aber mit hundert Kindern jeden Alters, das war etwas anderes. Schon der erste Tag brachte Schwierigkeiten genug, und doch waren jetzt alle Kinder noch frisch, und ihr Weg führte sie durch eine Gegend, die Gladys genau kannte. Die größeren Mädchen hielten sich tapfer, doch hatte Gladys wohl bemerkt, daß der Marsch ihnen schwerfiel. Sie waren das Wandern nicht gewöhnt; manche hatten noch eingebundene Füße gehabt. Waren diese nun auch schon seit mehreren Jahren von den Bandagen befreit, so konnte man sie doch nicht mit gesunden Gliedern vergleichen, die fähig waren, das Geröll der Bergpfade zu ertragen. Gladys hörte die großen Jungen sich unruhig herumwerfen; sie versuchten, die Ratten zu verscheuchen, aber bald waren sie zu müde dazu und schliefen ein. Gladys lag auf dem harten Boden; über ihr wurde gerade das unbewegliche steinerne Antlitz eines Buddha mystisch von einem Mondstrahl aufgehellt, der durch irgendeine Öffnung hoch oben im Dach des Raumes fiel. Je mehr sie über die nächste Zukunft nachdachte, desto beklommener wurde ihr zumute. Aber es gab nun keinen Rückzug mehr: sie mußte weiter.
Mit ähnlichen Schwierigkeiten würden sie sich nun Tag um Tag herumschlagen müssen! Heute wachten die Kinder allerdings noch erfrischt auf und fingen ohne die geringste Ehrfurcht und mit schrillen, bewundernden Schreien an, den Tempel zu durchstreifen. Der Priester lächelte milde, ihn schien das Gelärm nicht zu stören. Er verbeugte sich, als Gladys ihm ihren Dank aussprach, und wünschte ihr eine gute Reise nach Sian. —
Das nächste Abenddunkel überfiel sie fern jeder Behausung. Sie drängten sich im Schutz eines Halbkreises von
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