Eine unbegabte Frau
Elend blieb David Davis die Fähigkeit, sich seelisch zu erheben; und aus dieser Haltung kam ihm die sonst fast unverständliche Kraft, sich nicht in seinen Leiden zu verlieren. Wenn die Japaner auch nur entfernt das große Geheimnis des Christseins begriffen hätten, das eine unendliche Reihe von Märtyrern geschaffen hat seit jenem dunklen Tag, als Jesus Christus an ein Kreuz geschlagen wurde — sie hätten gewußt, daß alle ihre Mühen vergeblich waren. Das ganze Wesen dieses Mannes aus den Bergen von Wales ging von einem Kern aus, den keine körperliche Schändung zu zerstören vermochte. Sechs Monate hielten sie ihn in dieser Zelle, schmutzstarrend, von Läusen bedeckt, zu einem klebenden Knäuel vereint mit den anderen elenden und gequälten Geschöpfen Gottes. Er sah keine Sonne, keinen Mond und wußte nicht, wann die Nacht in den Tag überging oder der Tag in die Dunkelheit.
Schließlich mußten sich die Japaner geschlagen geben. Er wurde in eine andere Zelle eingewiesen, in der nur drei Gefangene untergebracht waren, die Behandlung wurde um ein geringes besser. Er benutzte die Zeit dazu, einen seiner Mitgefangenen zum Christentum zu bekehren. Zwei Jahre nach seiner Gefangennahme wurde er an die Küste geschickt, um als Zivilist repatriiert zu werden, ehe der Krieg gegen England und Amerika ausbrach. Und während er auf das letzte nach Europa abgehende Schiff wartete, erfuhr er, daß seine Frau mit den Kindern in einem nahegelegenen Lager untergebracht war.
Das Schiff fuhr ohne ihn nach England — David Davis blieb trotz der kaum überstandenen Strapazen in China bei den Seinen. Er traf sie wohlbehalten an, nur die kleine Roberta war an Keuchhusten erkrankt. Und hier sollte nun ein neuer, schwerer Schlag seine seelische Widerstandskraft auf die Probe stellen: es kam eine Komplikation im Befinden des Kindes hinzu, die in tausend Fällen höchstens einmal auftritt, und innerhalb weniger Stunden starb seine kleine Tochter.
Den Rest des Krieges verbrachte er mit seiner Frau Jean und den beiden Söhnen in einem Internierungslager, und heute lebt David Davis bei Cardiff in einem kleinen Haus neben der Kirche inmitten seiner Gemeinde. Narben von seinen Begegnungen mit den Japanern zeichnen sein Gesicht — aber nicht seine Seele. Kein Rachegefühl, keine Regung des Hasses lebt in ihm.
15. Kapitel
Bei Sonnenaufgang waren die Kinder schon angezogen und tummelten sich laut und vergnügt im Hof, bewarfen sich mit ihrem Bettzeug, spielten »tag« — erwartungsvoll und gänzlich unbekümmert. Die Älteren mußten Gladys helfen, die Kleinen herauszufischen und zu füttern. Etwa zwanzig Mädchen und sieben Jungens im Alter zwischen dreizehn und fünfzehn — auch Ninepence und Sualan zählten dazu — konnte sie schon zu ihrer Unterstützung brauchen, alle anderen waren vier bis acht Jahre alt, ein undiszipliniertes, lachendes, weinendes, schreiendes kleines Völkchen. Vergeblich suchte Gladys ihnen klarzumachen, daß sie ihre Kraft für den langen Tag, der vor ihnen lag, aufsparen müßten — ebensogut hätte sie einem Gebirgsbach das Strömen untersagen können. Schon trafen die zwei vom Mandarin gesandten Kulis ein, an jedem Ende ihrer Schulterstangen einen Korb voll Hirse. Gladys nahm Abschied von den beiden Missionshelferinnen und einigen Freunden, die sich eingefunden hatten, und nach einem letzten Blick auf die Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten« mit ihrem zerbombten Dach zog die Schar mit viel Getöse ab. Die Kleineren stürmten voran, durch das Stadttor hinaus und wieder zu dem Trupp zurück und riefen, daß sie immer, immer so weiterlaufen könnten.
Sie folgten zunächst der Maultierstraße in südlicher Richtung. Gladys hatte eine Pfeife eingesteckt, die ihr vor Monaten ein japanischer Soldat gegeben hatte; mit dieser pfiff sie die allzu waghalsigen unter den Buben von halsbrecherischen Kunststücken auf den Felsen zurück. Zweimal hielt sie auch einen Generalappell und zählte, ob keines ihrer Schäfchen fehlte.
Am Ufer eines Flusses hielten sie an, um Hirse in dem eisernen Topf zu kochen, den Gladys trug: jedem Kind füllte sie das dampfende Korn in seine Schüssel, der Reihe nach. Als das letzte Kind abgefertigt war, fand sich nicht mehr viel im Topf für sie selbst. Und das war das gleiche jeden Tag! Nach der Mahlzeit lebten die Kinder auf, begannen wieder in den Felsen herumzuklettern und machten aufregende Expeditionen als Voraustrupps, um weiter vorn der ganzen Gesellschaft aufzulauern
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