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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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dieser Reise ihr volles Maß. Als die Truppe in der Morgendämmerung aufbrach, winkten die Kinder den Soldaten noch lange wehmütig nach.
    Jeder neue Tag wuchs sich zu einem schweren Alpdruck aus. Merkwürdigerweise kamen die kleineren Kinder erstaunlich gut durch; sie waren an karge Nahrung gewöhnt, und nachts glich ihr Schlaf, ganz gleich, wie hart der Boden war, fast einer tiefen Bewußtlosigkeit. Erfrischt wachten sie wieder auf, bereit zum Spielen und Umherspringen. Sie kletterten aus purem Übermut die Berge hinauf, verloren ihre Eßschalen und — Stäbchen, weinten oft und beschwerten sich bitterlich — aber sie blieben gesund. Sualan, Ninepence, Lan Hsiang und die anderen Mädchen dagegen waren in einem bedauernswerten Zustand. Ihre Füße, deren Muskeln und Sehnen durch jahrelanges Einschnüren gelitten hatten, verursachten ihnen unerträgliche Schmerzen. Sie konnten immer nur ein paar hundert Meter weit humpeln und mußten dann eine Pause einlegen.
    Aber trotzdem hielten alle durch, und langsam bewegte sich der Zug durch das Gebirge. Am zwölften Tage kamen sie aus den Bergen heraus in das Hügelland am Gelben Fluß. Wie immer, bildeten die Stimmen der Kleinen um diese Tageszeit eine Symphonie des Jammers.
    »Ai-weh-deh, meine Füße tun so weh!«
    »Ai-weh-deh, ich habe Hunger!«
    »Ai-weh-deh, wann halten wir endlich an und gehen schlafen?«
    »Ai-weh-deh, trage mich doch!«
    »Da unten«, sagte sie, »seht nur, da liegt das große Dorf Yuan Chu, und dahinter, weit dort hinten, seht, das ist der Gelbe Fluß! Schaut nur, wie er in der Sonne leuchtet!«
    »Ach, das ist so weit weg, Ai-weh-deh, wir sind doch so hungrig!«
    »In dem großen Dorf werden wir zu essen bekommen, und dann sind wir bald am Gelben Fluß! Und wenn wir den überquert haben, dann sind wir alle in Sicherheit. Jetzt wollen wir ein Lied singen, wenn wir ins Dorf einmarschieren!«
    Konnte ein Häufchen schiffbrüchiger Matrosen, die von ihrem Wrack aus eine freundliche Küste sichten — konnten verdurstende Wüstenreisende, denen eine Oase winkt, sehnsüchtiger in die Ferne blicken als Gladys und ihre Kinder auf dieses schimmernde, riesige Band gelben Wassers? Die zwölf Tage, seit sie Yang Cheng verlassen, waren lang und schwer gewesen; nun endlich war alles überstanden!
    Die Straße, der sie von den Hügeln herab in das Dorf Yuan Chu folgten, trug Spuren schwerer Bombenangriffe. Als sie sich dem Ort näherten, konnten sie die Ruinen erkennen, den Schutt und die Trümmer in den Straßen, und — eine merkwürdige, unheimliche Ruhe über dem Ganzen. Kein Hund kam ihnen hechelnd entgegen. Kein Träger, kein Kuli bewegte sich durch die Straßen. Schon liefen Gladys’ Kinder von Haus zu Haus, ihre hohlen Stimmen hallten in den Höfen — aber niemand antwortete. Das Dorf war vollständig verlassen. Schließlich berichteten Liang und Teh, die treuen Pfadfinder, die wieder der Schar vorausgegangen waren, daß sie einen alten Mann gefunden hätten. Gladys eilte zu ihm. Er saß gegen einen Baum gelehnt in der Sonne, auf dem Kopf einen spitzen Strohhut; einige wenige lange weiße Haare sproßten auf seinem Kinn. Dünne Beine streckten sich aus seinen blauen Baumwollhosen ins Freie. Er hatte geschlafen und war ärgerlich über die Störung.
    »Alter Mann, sind wir hier in Yuan Chu?«
    »Ja, das ist Yuan Chu.«
    »Wo sind denn aber die Bewohner? Warum ist das Dorf verlassen?«
    »Sie sind fortgelaufen. Die Japaner kommen, und da sind alle fortgelaufen.«
    Ein dünnes Rinnsal von Speichel lief sein Kinn hinab durch die vereinzelten Haare. Er besaß keinen Zahn mehr, sein Gesicht war bis auf die Knochen eingesunken.
    »Warum sind Sie nicht mitgegangen? Warum sind Sie hiergeblieben?«
    »Ich kann nicht so schnell laufen. Ich schlafe lieber hier, bis die Japaner kommen. Wenn sie mich töten — wem macht’s was aus? Meine Söhne sind alle fort. Meine Familie ist zerbrochen wie Weizenhalme im Wind. Ich werde auf die Japaner warten und sie anspucken, wenn sie kommen.«
    »Wohin sind denn die Leute geflohen?«
    »Über den Gelben Fluß, weg von den Japanern.«
    »Dann müssen wir auch dorthin. Wo gibt es Boote?«
    »Boote gab es einmal. Ich glaube, ihr kommt zu spät.« Mit trüben Augen betrachtete er die Kinder, die sich um ihn gesammelt hatten. »Woher kommen denn all die Kinder? Wohin wollen sie?«
    »Wir sind Flüchtlinge auf dem Weg nach Sian«, sagte Gladys. Seine Lippe kräuselte sich verächtlich, er sah zu ihr auf: »Sie haben wohl den

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