Eine unbegabte Frau
hatte er in den letzten Jahren unter dem Druck ständiger Angst und Unsicherheit gelebt. Wenn die Feinde kamen, war er aus der Stadt geflohen und hatte von einem Bergdorf aus, so gut es ging, seine Amtsgeschäfte weitergeführt. War die Stadt wieder frei, so kehrte er in ihre Ruinen zurück. Weder Kommunisten noch Japaner machten mit Mandarinen viel Federlesens: er war in dauernder Lebensgefahr. Aber er lächelte Gladys zu und erkundigte sich nach ihrer Gesundheit sowie dem Befinden ihrer Eltern und war herzlich bemüht, ihr zu helfen. Ihren Bericht und ihren Entschluß, sich mit den Kindern durchzuschlagen, hörte er sehr ernst an. Sie spürte, wie stark ihn dieser Plan beunruhigte.
»Ich habe heute erfahren, daß die japanischen Armeen über die Bergpässe eindringen und bereits den Gelben Fluß, den Hoang-ho, erreicht haben. Sie müßten also das von ihnen besetzte Terrain überqueren. Das wäre außerordentlich gefährlich.«
»Wir haben vor, die bekannten Wege überhaupt nicht zu berühren«, erwiderte sie. »Wir gehen auf Saumpfaden, die die Japaner niemals finden werden.«
»Mit hundert Kindern?«
»Mit hundert Kindern«, gab sie entschlossen zurück. »Ich wage es nicht, auch nur ein einziges zurückzulassen in dieser gefährdeten Stadt.«
»Sie haben recht«, sagte er traurig. »Und Sie haben Geld und Lebensmittel genug für die Reise?«
»Keins von beiden.«
Er lächelte. Dann lachte er leise. »Sie haben wirklich eine Gabe, das Schlimmste im Frontalangriff zu nehmen, Ai-weh-deh. Und zwar mit einer Sicherheit und einer Ruhe, um die ich Sie all die Jahre hindurch beneidet habe, seit Sie nach Yang Cheng gekommen sind!«
»Ich habe Ihnen so oft gesagt, Mandarin: >Gott wird sorgen<. Glauben Sie es nun endlich?«
»Lassen Sie wenigstens bei dieser Gelegenheit den Mandarin von Yang Cheng als seinen Beauftragten handeln. Ich kann Ihnen zwei Dhan Hirse zur Verfügung stellen, dazu zwei Mann als Träger für den ersten Teil der Reise. Sie werden mehrere Wochen brauchen, um Sian auf dem Wege zu erreichen, den Sie gewählt haben — Sie sind sich doch klar darüber?«
»Ich weiß. Morgen bei Tagesanbruch gehen wir.«
»Gott möge Ihnen helfen«, sagte er. »Möge Ihnen das Glück beschieden sein, das Sie verdienen.«
Sie verbeugten sich tief voreinander — ein paar alte Freunde, die Abschied voneinander nahmen. Und jeder hätte dem anderen gern mehr von seiner herzlichen Zuneigung gezeigt, mit etwas anderem als nur mit Worten. Aber das war unmöglich. Und unnötig.
Sie ging zur Herberge zurück. Die K’angs, einst das Lager der Maultiertreiber, waren vollgepackt mit Kindern. Von den Resten des Balkons aus blickte Gladys auf zu dem sternübersäten Himmel und den vertrauten Bergen. Sie ahnte, daß sie Yang Cheng, wenn nicht für immer, so doch für eine sehr lange Zeit verließ. Der Tag kam ihr in den Sinn, an dem sie hier angekommen war, so fröhlich ahnungslos und ohne die geringste Vorstellung von den Schicksalen, die hier auf sie warteten. Wie viele Schwierigkeiten, wieviel harte Arbeit — und doch wieviel Glück war in diese erfüllten und gesegneten Jahre zusammengedrängt —, nichts konnte die Fülle von Erinnerungen auslöschen oder herabsetzen. Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß in Sian nach ihrer Ankunft genug Arbeit auf sie wartete, aber es half nicht viel.
Wie mochte David durchkommen? Hätte sie gewußt, welchen Leidensweg er gehen würde, wäre sie wahrscheinlich sofort nach Tsechow umgekehrt, um ihm nach Kräften zu helfen. Aber sie ahnte nichts. Und noch viele Jahre sollten vergehen, bis sie die Ereignisse um David Davis erfuhr.
Zwei Wochen nach ihrem Einmarsch in Tsechow nahmen ihn die Japaner unter der Anschuldigung der Spionage gefangen. Obgleich es genau ein Jahr und vier Monate vor der Kriegserklärung der Japaner an die Alliierten und David Davis daher formell neutral war, beeinflußte dies in keiner Weise ihr Verhalten ihm gegenüber. Sechzehnhundert Kilometer weit im Innern Chinas spielten theoretische Bedenken keine Rolle mehr in der japanischen Strategie. Aus irgendeinem für Europäer unverständlichen Grunde hatten sie sich in den Kopf gesetzt, von ihm das Geständnis der Spionage zu erzwingen. Ihre Methoden waren sehr einfach. Sie ließen ihn hungern, nahmen ihm den Schlaf und schlugen ihn unmenschlich.
Zwei seiner Neugetauften banden sie an Pfähle und folterten sie, um sie zu zwingen, die gewünschte Erklärung abzugeben: daß Davis gegen die
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