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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Felsen zusammen, die den Wind abhielten. Die Nacht brachte dichten Nebel, und die Kinder rollten sich fröstelnd unter ihren feuchten gesteppten Wattedecken zusammen — am nächsten Tage dampften sie und trockneten erst allmählich, als die Sonne aufgegangen war. Nachmittags trafen sie einen Mann, der ein Maultier ritt, er reiste in der gleichen Richtung wie sie. Wenn sie in sein Dorf kommen wollten, sagte er, so würde er sich freuen, sie alle bei sich aufzunehmen. Wie dankbar ging Gladys auf das freundliche Angebot ein! In seinem Hof streckten die Kinder sich aus und schaufelten mit ihren Stäbchen die Hirse in sich hinein, bis alle Bäuche voll waren; dazu tranken sie viele Schalen heißen Tee und fanden noch immer, daß alles ein herrliches Abenteuer sei. Und auch Gladys gab sich einem tiefen Gefühl der Erleichterung hin, daß nochmals ein Tag sicher hinter ihnen lag und der Gelbe Fluß um einen Tag näher herangerückt war. Sie nahm ihre Trinkschale zwischen beide Hände, genoß die kleine Wärme, die sie spendete, und plauderte mit den älteren Mädchen.
    »Wie viele Tage brauchen wir denn noch, bis wir am Gelben Fluß sind, Ai-weh-deh?« fragte Sualan schüchtern.
    Obwohl Gladys noch nie bis zum Hoang-ho gekommen war, konnte sie die Frage sofort beantworten. »Die Treiber auf der normalen Maultierstraße rechnen fünf Tage. Wir gehen mitten durch die Berge. Etwa zwölf, würde ich sagen.«
    »Und treffen wir unterwegs auch bestimmt keinen japanischen Soldaten?« fragte Ninepence.
    »Ich hoffe nicht«, antworte Gladys. Während ihrer Unterhaltung betrachtete sie die beiden Mädchen — das eine, das sie für neun Pence gekauft hatte, und das Sklavenmädchen aus dem Yamen. Beide waren reizende Geschöpfe mit reiner heller Haut und glänzendem tief blauschwarzem Haar. Die staubigen wattierten Mäntel konnten ihrer zarten Schönheit keinen Abbruch tun. Wie bezaubernd würden sie in den traditionellen Gewändern Chinas aussehen, dachte Gladys mit leiser Trauer. Ob sie je solchen Luxus kennenlernen würden? Statt dessen kämpften sie sich hier durch die Berge, um ihr Leben zu retten. Ein handfester Zorn über die Dummheit aller Männer stieg in ihr auf — sie waren der Anlaß zu soviel Trübsal, auf ihr Konto kam auch diese Feuerprobe, der sie mit den Ihren ausgesetzt war. Sie gähnte. Merkwürdig, diese dauernde Müdigkeit, dachte sie; es kommt wohl von der übergroßen Verantwortung für alle diese Kinder. Sie wickelte sich in ihre Wattedecke und legte sich nieder, um zu schlafen.
    Am Morgen mußten die beiden Hirseträger nach Yang Cheng zurückkehren, sie hatten die Grenze ihrer Provinz erreicht. Aber der fremde Mann, der schon einmal auf dieser beschwerlichen Reise wie ein Freund gehandelt hatte, half ihnen auch jetzt aus ihrer Not. Er gab ihnen einen anderen Kuli mit, der den Rest der Hirse tragen sollte. Es sah allerdings aus, als ob der ganze Vorrat kaum noch zwei Tage reichen würde, selbst wenn man ihn auf das knappste rationierte.
    Die nächsten beiden Nächte verbrachten sie unter freiem Himmel. Zwei von den größeren Jungens, Teh und Liang, hatten in einem Dorf einen Topf Kalktünche bekommen, nun liefen sie voraus und markierten die Felsen am Weg eifrig mit weißen Spritzern, so daß die Nachfolgenden mit Leichtigkeit den Pfad durch die Berge finden konnten. Manchmal schrieben sie auch einen Text an die Felswände, zum Beispiel »Hier geht’s durch! Nur weiter!« oder »Keine Angst, kleine Schafherde!« Jubel lösten dann jedesmal diese Botschaften aus, wenn sie den Kleineren vorgelesen wurden.
    Die Gegend war Gladys unbekannt, doch zeigte ihr der Stand der Sonne, daß sie genau südwärts gingen. Sie wurden alle sehr von Durst gequält, denn die Hitze war groß, und nur in den Dörfern gab es Brunnen. Morgens, wenn der schwere Bergnebel sich als Tau niedergeschlagen hatte, sammelten sie jeden Tropfen, der an den Felsen hing, und befeuchteten ihre Zungen damit. Die Hirse war aufgezehrt, und der Träger kehrte zu seinem Dorf zurück. Nun hatten sie nichts mehr zu essen, und vor ihnen erstreckten sich unabsehbar die Berge, wild und abweisend und kaum bewohnt. Oft, wenn es über schwierige Felsstrecken ging, waren die Hänge so steil, daß sie eine menschliche Kette den Abhang hinunter bilden mußten, um die Kleineren von Hand zu Hand weiterzugeben. Sie weinten, wenn sie fielen, sie weinten, wenn sie müde wurden. Zwischendurch versuchte Gladys, sie mit einem Kirchenlied aufzumuntern; wenn es gerade

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