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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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über ebenes Gelände ging, marschierten alle tapfer im Takt dahin und sangen den Refrain mit. Gladys und die Älteren hatten längst das Bettzeug der Kleinen mit übernommen, und oft ließen sie eins der Fünf- bis Sechsjährigen auf eine kurze Strecke huckepack reiten. Selten gab es einen Augenblick, in dem nicht eine kleine Hand sich an Gladys’ Jacke festhielt.
    Sieben Nächte nach ihrem Aufbruch von Yang Cheng kampierten sie mitten in einer Hochgebirgsregion, die ihr selbst unbekannt war. Sie hatten einen Pfad gefunden, der südwärts führte. Es war noch nicht dunkel, doch waren sie alle zu erschöpft, um weiterzugehen. Die dünnen, hausgemachten Tuchschuhe, die sie trugen, waren samt und sonders zerschlissen und von den Füßen gefallen. Die Fußsohlen der großen Mädchen bluteten, eine steife, trockene Schmutzkruste bedeckte jeden dieser müden Wanderer. Der Hunger quälte sie sehr. Gladys hob den Kopf, um die Schar zu überblicken, die in Gruppen zusammengedrängt unter den Felsen lag. Was sie sah, machte ihr Sorge; wenn sie nicht sehr bald Nahrung und Hilfe erhielten — sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Auf einmal sah sie Teh und Liang, die sich wie immer als Pfadfinder nützlich machten, im Lauf zurückkommen. Sie riefen etwas, das sie nicht verstehen konnte, aber ihre Aufregung ließ sie eine Gefahr ahnen.
    »Männer!« riefen sie. »Soldaten!«
    Gladys schnürte die Angst einen Augenblick die Kehle zu. Sie führte die Trillerpfeife zum Munde, um das verabredete Signal zu geben, auf das die Kinder auseinanderlaufen und sich verstecken sollten — aber sie blies nicht. Wenn sie sich in diesem wilden Gebiet zerstreuten, würden viele von ihnen verlorengehen und in der Wildnis verhungern. Und dann, während noch die beiden großen Jungen keuchend auf sie zukletterten, sah sie die Soldaten weiter unten schon um einen Felsvorsprung herumkommen, und mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung erkannte sie, daß es nationalistische Truppen waren. Auch die Kinder hatten sie entdeckt. Alle Müdigkeit war mit einem Schlage vergessen, und sie sprangen über die Felsen hinab, um die Ankommenden zu begrüßen. Gladys mit den Mädchen näherte sich langsamer, und da plötzlich im Gehen hörte sie den Laut, den sie mehr fürchtete als alles andere: das Brummen von Flugzeugen! Mit donnerndem Lärm, der von den Felsen das ganze Tal entlang zurückgeworfen wurde, schwangen sich zwei japanische Kampfflieger durch eine Schlucht zwischen den Bergen und rasten über ihre Köpfe hinweg. Obgleich sie noch hoch über ihnen flogen, jagte doch ihr Erscheinen, das vom Echo vervielfachte Brüllen ihrer Maschinen jedem einzelnen hier im Tal panischen Schrecken und sinnlose Angst ein.
    Gladys warf sich in Deckung unter einem Felsvorsprung; daß die Mädchen dasselbe taten, hatte sie noch aus den Augenwinkeln heraus sehen können. Dort kauerte sie, aufs äußerste gespannt, und wartete auf das Feuer der Maschinengewehre. Aber es kam nichts. Sie kroch hervor, als sich die Flieger entfernten, richtete sich auf und erkannte gerade noch auf den Flügeln das Abzeichen der »Aufgehenden Sonne« — aber offenbar hatten die japanischen Flieger einen anderen Auftrag als die Beschießung nationalistischer Truppen oder einer Flüchtlingsschar in den Bergen. Gladys sah hinunter in das Tal. Die Kinder waren nicht umsonst auf richtiges Verhalten bei Fliegergefahr gedrillt worden — sie krabbelten von überall her aus ihren Verstecken, und die Soldaten, die sich genauso wahllos und eilig in Deckung gebracht hatten, waren bald von der Schar umringt, so daß überall Spaß und Lachen aufklang.
    Die Kompanie, etwa fünfzig Mann, sollte als Verstärkung zu einer weiter nördlich operierenden Einheit von Nationalisten stoßen. Gladys fragte nach dem Zugführer und erklärte ihm ihre Lage. Nun gab es Hilfe für die hungrigen Kinder. Soldatenhände langten tief in den Tornister hinein und brachten ganze Schätze von Süßigkeiten ans Licht, und ringsherum war nichts anderes mehr zu hören als die begeisterten »Ah«s und »Oh«s der glücklichen Kinder. Die Soldaten beschlossen, ihr Nachtlager gleich hier aufzuschlagen, und luden Gladys und ihre Bande ein, bei ihnen zu bleiben und ihre Mahlzeit zu teilen. Das war ein Fest! Lebensmittel kamen zum Vorschein, die man in Schansi seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Kinder saßen um die kleinen Feuer und stopften sich voll, bis sie zu platzen drohten. Sogar Gladys bekam zum erstenmal auf

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