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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Beute sicher. Die Tiere waren aneinandergeseilt, sie mußten dem Leittier folgen. Diese handgreifliche Methode der Kundenwerbung sollte in Zukunft Gladys’ Aufgabe sein.
    »Wenn sie mich aber beißen?« jammerte Gladys.
    »Nehmen Sie doch Vernunft an«, entgegnete Hanna. »Sie sind die Jüngste und Beweglichste. Ich bin zu alt. Chang hat mit dem Essen zu tun. Also ist das Ihre Sache.«
    Aber Gladys hätte sich nicht vor den großen gelben Mauleselzähnen zu fürchten brauchen. Im Gegenteil: sie konnte sich ruhig auf die Hilfe der klugen Tiere verlassen. Wenn die armen Vierbeiner nach einem harten Tag auf den Bergpfaden das Nahen des Abends spürten, hatten sie nur noch eines im Sinn: ihre Last loszuwerden und an die Futterkrippe zu kommen. Ihr in Tausenden von Jahren entwickelter Instinkt wußte: »Habe ich erst einmal den Kopf durch eine Einfahrt gesteckt — dann ist es mit der Schinderei vorbei.« Und wenn sie endlich die Hofmauern um sich hatten, so konnte keine Mohrrübe, kein Versprechen und Zureden sie da vor dem nächsten Morgen wieder herauslocken. Sie gaben willig jedem Ruck am Zügel nach, wenn es nur in einen Innenhof ging. Hanna Lawson war fest überzeugt, daß sie auch einem »fremden Teufel« folgten, wenn er nur zog.
    Diese Überlegung sollte Gladys trösten. Außerdem hatte Chang ihr einen langen, anpreisenden Ruf beigebracht, den sie den Maultiertreibern zuschreien sollte: »Muyo bietsch — muyo gudso — hau — hau — hau— lai— lai— lai!« Zu deutsch: »Wir haben keine Wanzen, keine Flöhe, gut gut, gut, kommt kommt, kommt!«
    Ausgestattet mit dem Trost, der sich auf das Seelenleben der Maultiere stützte, und mit diesem Ruf, stand Gladys ziemlich trübsinnig in der Hofeinfahrt ihrer Herberge und wartete auf »Arbeit«. Drei Maultierzüge waren schon an ihr vorbeigeklappert. Sie hatte es mit ihrem Lockruf probiert. Aber weder Tiere noch Treiber nahmen auch nur die geringste Notiz von ihr. Voller Schrecken stellte sie also fest, daß ohne einen gut gezielten Überfall nichts zu machen war.
    Die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Jacke verborgen — es war die angestammte Haltung aller chinesischen Herbergswirte, die je auf Gäste gewartet hatten, seit die ersten Muli über die Berge zogen —, so stand Gladys im dämmerigen Torweg. Jetzt kam ein Maultierzug langsam die Straße herunter. Der Treiber war augenscheinlich müde, denn er schlurfte zwei bis drei Meter hinter seinem Leittier drein. Wie ein kleiner Tiger, sprungbereit und aufs höchste konzentriert, lauerte Gladys im Tor. Das Maultier kam heran — Gladys sprang vor und griff zu! Vor lauter Eifer hatte sie sich aber so energisch von der Mauer abgestoßen, daß ihr Schwung sie noch am Maultier vorbei in volle Sicht des Treibers trug. Im Dämmerlicht erkannte er sofort den »fremden Teufel« und schrie auf vor Entsetzen. Der Leitzügel war aber fest um sein Handgelenk geschlungen, daher konnte er also zum Glück nicht fortlaufen. Gladys hatte ihren Schwung gestoppt, warf sich nochmals auf den Mauleselkopf und fühlte sich im gleichen Augenblick, über der froh schnaubenden Samtnase des Tieres hängend, in den Torweg hineingeschoben. Hinter ihr drängten die übrigen Tiere und zogen den Treiber mitsamt seinem Seil hinein. Hufe schlugen scharf auf die Steinplatten, Dampf stieg von den schweratmenden Flanken auf, die müden Tiere sammelten sich in einer dichten Gruppe. Gladys sah sie schüchtern an. Noch nie im Leben war sie dem Kopf eines Maulesels so nahe gewesen, nicht einmal auf der Herreise von Tientsin. Sie streckte die Hand aus und streichelte eines der weichen Mäuler. Braune Augen blickten vorwurfsvoll: »Was wird mit meiner Traglast?« hieß das. »Und Futter? Wasser?« Gladys hatte ganz allein einen Maultierzug gefangen, aber dazu leider nur einen einzigen Mann. Die anderen waren alle davongelaufen. In diesem Augenblick kamen Hanna Lawson und Chang aus der Küche.
    »Gut gemacht!« rief Frau Lawson, sie hüpfte vor Begeisterung. »Gut gemacht, wahrhaftig!«
    Das war zuviel. Der Treiber hatte Gladys voller Scheu betrachtet; als nun aber auch noch der weißhaarige Geist auf ihn zukam, war es aus. Mit einem Schreckensruf riß er sich das Leitseil vom Handgelenk und stürzte hinaus aus dem Hof.
    »Nun haben Sie alles verdorben«, jammerte Gladys. »Wenigstens einen Mann hätten wir gehabt, und nun haben Sie ihn verjagt!«
    Hanna klopfte ihr auf die Schulter. »Macht gar nichts. Die Leute können ihre Maultiere nicht im Stich

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