Eine unbegabte Frau
Beginn der Fahrt nehmen sie Abschied von der einen Frau, und am Schluß ihrer Reise werden sie liebend empfangen von der anderen. Manchmal blieb dann der Mann ein paar Wochen, um bei der Ernte zu helfen. Es kam vor, daß die Frauen einander Geschenke übersandten, etwa eine Gabe für ein neugeborenes Kind, die der Mann auf seinem langen Weg über die Berge mitnahm; aber sie sahen sich nie. Sie besorgten ihr Haus, zogen Kinder auf und warteten geduldig auf den Mann. Wenn sie alt wurden, erfreuten sie sich der Hochachtung, die China den Betagten entgegenbringt. Aber sie blieben immer durch die Berge getrennt.
In Yang Cheng schien Gladys das Dasein ein einziges, nie endendes Abenteuer. Der großartige Hintergrund der Berge war weit und voller Leben, und sie selbst war nun nicht mehr irgendeine müßige Europäerin, sondern ein tätiger Teil des Ganzen; sie fühlte es mit tiefer innerer Befriedigung. Bis zu dem Streit mit Hanna Lawson erfüllte ihre neue Aufgabe sie ganz.
Dieser Streit war sinnlos, nicht mehr als eine kleine Meinungsverschiedenheit, unerwartet aber waren seine Folgen. Gladys hatte sich in den acht Monaten seit der Eröffnung der Herberge zu den »Acht Glückseligkeiten« an Hannas rasche Zornausbrüche gewöhnt. Am besten war es, der alten Dame aus dem Wege zu gehen, bis ihre Wut verraucht war. Frau Lawson machte nachmittags gern einen kleinen Spaziergang, und Gladys leistete ihr oft Gesellschaft; doch in den letzten Wochen hatte sie sich mit verzweifelter Willensanstrengung das Studium der chinesischen Sprache vorgenommen. Mehrere Stunden täglich büffelte sie Sätze und Wörter, die sie phonetisch in ein Heft schrieb. In diese Arbeit war sie vertieft, als Hanna kam, um sie zum Spaziergang abzuholen. Gladys hätte lieber nicht bitten sollen, sie für heute zu entschuldigen! In Frau Lawson schoß sofort der Zorn hoch, und Gladys konnte sie nicht mehr beruhigen. Alle Versuche, ihr zu erklären, daß sie der Herberge viel mehr nützen könne, wenn sie die Sprache beherrsche, waren erfolglos.
Hanna hörte gar nicht zu. Sie war am Siedepunkt angelangt. Wie ein Hagel scharfer Eisstücke prasselten ihre Worte auf Gladys nieder: wenn sie sich nicht bemühen wollte, ein paar Schritte mit ihr zu gehen, dann solle sie sich auch nicht bemühen, im Hause zu bleiben. Ganz im Gegenteil, je eher sie ginge, desto besser. Jawohl, am liebsten sofort! Brauchte sie Hilfe? Die könnte sie haben. Sie stürmte hinaus und kehrte im nächsten Moment wieder, auf dem Arm einen schnell zusammengerafften Haufen von Gladys’ Sachen, die sie außer sich Stück um Stück nach ihr warf. Weinend rettete Gladys sich in die Küche zu Chang. Dort kauerten beide und warteten das Ende des Wutanfalls ab, während noch immer das Hab und Gut von Gladys in den Hof hinabflog. Chang war ehrlich betrübt. Als Chinese war er erzogen, das Alter zu verehren, und Hanna Lawson hatte längst die Jahre der Würde erreicht.
»Tun Sie lieber, was sie verlangt«, riet er. »Gehen Sie auf kurze Zeit fort. Ein Besuch bei der Mission in Tsechow wäre eine hübsche Abwechslung, und die Damen werden Ihnen gern einen kleinen Ferienaufenthalt anbieten. Dort bleiben Sie ruhig eine Weile! Aber ich glaube, daß Frau Lawson sehr bald nach Ihnen schicken wird. Dann hat sie ihren Zorn vergessen, Sie kehren zurück, und wir werden alle wieder glücklich sein.«
»Aber wie komme ich denn hin?« schluchzte Gladys. »Es sind zwei Tagesreisen. So weit kann ich nicht laufen.«
»Ich werde meinen Freund bitten, ein Maultier zu besorgen und einen Mann, der mit Ihnen geht«, tröstete Chang.
»Und wenn ich nie mehr zurückkommen darf?«
In diesem Augenblick flog einer von Gladys’ abgenützten Koffern über die Balustrade auf die Steinfliesen und rutschte noch ein paar Meter über den Hof. Chang schüttelte beruhigend den Kopf. »Wir kennen beide die verehrte alte Dame«, sagte er. »In kurzer Zeit ist alles vergeben und vergessen. Frau Lawson hat ihre Gladys gern und braucht sie nötig. Es schadet nichts, wenn sie das in Ihrer Abwesenheit ein wenig spürt.« Er zog die Schultern hoch und sah verschmitzt aus. »Das Sprichwort sagt: >Erst wenn die Trinkschale zerbrochen, betrachtest du liebend ihr Muster.<«
»Also gut«, sagte Gladys zögernd. »Ich gehe.«
Die Wände zitterten vom heftigen Zuschlagen einer Tür — Frau Lawson war in ihr Zimmer zurückgekehrt. Das war der richtige Zeitpunkt für Gladys. Sie nahm ihren Koffer und packte ihre geringe Habe ein. Chang
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