Eine unbegabte Frau
wandernden Schausteller sich dann und wann auf dem Marktplatz sehen ließen.
Die beiden Frauen waren so schnell gelaufen, daß sie in den vorderen Reihen der Neugierigen Platz fanden. Gladys begriff nicht recht, was da vorging. Ein Mann stand dort, sein Schädel war kahlgeschoren bis auf den Zopf, der ihm um die Stirn geschlungen war. Er hielt sich nach vom gebeugt, und seine Schultern schienen seltsam, ja rührend gekrümmt. Ein Soldat stand, mit dem Rücken zu Gladys, dicht neben ihm. Verwirrt und etwas Schlimmes ahnend, blickte Gladys auf die beiden Männer. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie plötzlich das helle Blitzen eines Stahls, sah ein krummes Hinrichtungsschwert einen Augenblick lang hoch geschwungen in der Sonne funkeln. Dann sauste es nieder, ein Strahl roten Blutes sprang auf, senkte sich im Bogen herab und verspritzte mit leisem Geräusch auf den Steinplatten. Ein kurzes Aufstöhnen unterdrückter Erregung quoll aus der Menge, als der Kopf dumpf auf das Pflaster fiel und ein Stück weiterrollte. Gladys schloß krampfhaft die Augen, um dieses entsetzliche Bild auszulöschen. Dann schüttelte sie die Hand der Chinesin ab, die völlig besessen war von dem Geschehenen, drehte sich um und drängte sich mit verzweifelter Kraft durch die quirlenden, schwatzenden Zuschauer. Sie rannte immer schneller durch die menschenleeren Gassen. Alle waren auf dem Marktplatz, um die Hinrichtung nicht zu versäumen. Die Tränen strömten ihr über das Gesicht, während sie durch das Osttor hinauf und die Straße zu ihrem Hause hinunter hastete.
Frau Lawson saß am Tisch und schrieb ihren Tagesbericht, als Gladys hereinstürzte, gänzlich außer Fassung vor Schreck und Schmerz.
»Was ist denn los?« fragte Hanna Lawson überrascht.
»Ich habe etwas Furchtbares gesehen, etwas Entsetzliches«, schluchzte Gladys. »Auf dem Marktplatz haben sie einen Mann vor aller Augen hingerichtet!«
Bedächtig legte Hanna ihren Bleistift neben das Heft.
»Nun, und?« fragte sie kurz.
Gladys’ Gesicht war von Tränen verschmiert. Sie blinzelte vor Erstaunen.
»Sie haben ihm den Kopf mit einem Schwert abgehauen, Frau Lawson!« Die Veteranin mit ihren rund fünfzig Jahren Chinaerfahrung sah sie ruhig an: »Das ist die gesetzliche Strafe für bestimmte Verbrechen. Vermutlich war es ein Räuber, ein Dieb oder ein Mörder, der vor dem Mandarin im Yamen verklagt worden ist. Wer schuldig befunden wird, dessen Kopf wird sofort abgeschlagen, das ist nichts Neues.«
»Aber es ist doch grauenhaft!«
»Haben Sie denn gedacht, hier ginge es so sanft zu wie in England?«
»Nein, aber...«
»Jetzt hören Sie einmal auf mich, Gladys Aylward. Sie sind nicht nach China gekommen, um sich hier über die Gesetze zu ereifern. Man wird die Leiche den Berg hinunterwerfen, und dort unten fressen sie die Wölfe oder die Raubvögel. Eine christliche Beerdigung gibt’s da allerdings nicht, mein Kind, machen Sie sich das klar«, fuhr sie schonungslos fort. »Der Kopf wird auf der Stadtmauer aufgespießt — eine Warnung für alle.«
»Wie barbarisch ist das alles!«
»Ja, barbarisch scheint es uns. Manchmal gibt es monatelang keine Hinrichtung; dann stecken wieder die Köpfe reihenweise auf der Mauer. Es ist gut, Sie gewöhnen sich daran. Man muß sich in China an mancherlei gewöhnen. Wir wollen versuchen, dies alles durch die Liebe und Weisheit Jesu Christi zu ändern; wir wollen Verständnis wecken für Wahrheit und Gerechtigkeit; aber wir werden wenig erreichen, wenn wir nach Hause laufen und uns die Augen ausheulen.« Sicher hatte Hanna recht. Aber trotz ihrer Ermahnungen vergaß Gladys nie das Grauen, das sie auf dem Marktplatz gepackt hatte.
In dieser Zeit der »Eingewöhnung« erklärte Frau Lawson ihrer Gehilfin auch die finanzielle Lage ihrer Mission: sie hatte ein eigenes kleines Vermögen. Die Miete für das Haus belief sich, da es baufällig war und nach dem Glauben der Leute von Geistern und bösen Dämonen heimgesucht wurde, auf zweieinhalb Schilling im Jahr! Hirse, Weizen und Gemüse kosteten nur wenige Käsch. Man trug diese kleinen Kupfermünzen mit dem Loch in der Mitte in Bündeln auf eine Schnur gereiht bei sich. Ein Käsch war gut einen halben Pfennig wert. So war ihnen eine bescheidene Existenz gesichert; aber was nutzte diese Sicherheit, wenn sie keine Gelegenheit zu der Arbeit fanden, um derentwillen sie beide nach China gegangen waren! Eines Tages kam ihnen eine glänzende Idee. Sie waren eben auf dem Rückweg von einem
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