Eine unbegabte Frau
lassen, sie sind viel zu wertvoll. Nur abwarten, bald kommen sie wieder.«
Chang wurde mit dem Auftrag, die Treiber zu suchen, sie zu beruhigen und mitzubringen, ans Stadttor geschickt. Schon zehn Minuten später kam er zur Einfahrt herein, und hinter ihm schlich ein Chinese ängstlich in den Hof. Chang hatte ihm erklärt, daß die »fremden Teufelsdamen« saubere Räume und gutes Essen boten, zum üblichen Preis von zwei Käsch je Nacht, und obendrein würden sie als besondere Attraktion ihren Gästen Geschichten erzählen, gratis! Gab es irgendwo in der ganzen Provinz Schansi ein so günstiges Angebot? Lebte er nicht selbst, ein alter und angesehener Chinese, mit den »fremden Teufeln« zusammen? Von Zauberei keine Rede! Er solle nur einmal diese eine Nacht in der Herberge bleiben und dann selber urteilen. Chang wußte genauso gut wie der Treiber, daß keine Macht der Welt die Maulesel aus dem Hof herausbrachte, bevor am Morgen die Sonne aufging. Es war das Vernünftigste, sich an die guten Seiten der Sache zu halten. Nun also — der Treiber holte seine Genossen. Sie schnallten die Traglasten ab, tränkten und fütterten die müden Tiere und stapften in den großen unteren Raum, wo der geheizte K’ang, so lang wie eine ganze Wand, auf sie wartete. Chang brachte den dampfenden Kochkessel herein und verteilte den Inhalt in ihre Schüsseln. Sie griffen hungrig zu und lobten das Essen; als aber bald darauf Hanna und Gladys hinzutraten, rückten alle schleunigst in der äußersten Ecke zusammen.
Hanna war nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie hatten ihre Zuhörer, das war die Hauptsache. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte sie fröhlich. »Ich erzähle euch eine Geschichte, die euch sicher gefällt. Alle Geschichten, die in der >Herberge zu den Acht Glückseligkeiten erzählt werden, sind gratis.« Die Männer sahen jetzt ein bißchen zugänglicher aus, und so setzte sich Hanna auf den Schemel, den sie mitgebracht hatte, und fing an: »Heute abend handelt die Geschichte von einem Mann namens Jesus Christus. Der lebte vor langer Zeit im Lande Palästina...«
Die Herberge war eröffnet. Das Geschichtenerzählen hatte begonnen.
5. Kapitel
Ihr Erfolg als Wirtinnen fiel den beiden Frauen wirklich nicht in den Schoß. Abend für Abend stand Gladys im Torweg und tat ihr Bestes, um Maultierkarawanen zu »erbeuten«. Später, nachdem der Ruf der Herberge einmal begründet war, wurde alles leichter. Da füllte sich der Hof meistens in der Dämmerung mit sechs oder sieben Maultiergruppen, und die drei K’angs im Erdgeschoß und im Oberstock waren mit Männern vollgepackt. In den ersten Wochen aber mußte Gladys die Kundschaft höchstpersönlich und sehr handgreiflich in den Hof hineinzerren.
Auch das Erlernen der chinesischen Sprache war eine überaus mühselige Angelegenheit, wie sie zu ihrem Kummer feststellen mußte. Der gute Chang war ein freundlicher Lehrer: er führte sie in der Küche herum und benannte jeden Gegenstand mit seinem chinesischen Namen, und Gladys mußte wiederholen. Tisch, Eßstäbchen, Feuer, Topf, Eier. Er war bei Frau Lawson als Koch eingetreten, weil er gerne mehr vom Evangelium erfahren wollte, von dem er früher schon einmal gehört hatte.
Seitdem ihre Nachbarn es aufgegeben hatten, sie mit Erdklumpen zu bewerfen, wagten sich Gladys und Hanna Lawson auch über die Stadt hinaus. Sie wanderten durch das Hinterland von Yang Cheng zu den einsam gelegenen Dörfern, wo man sie zunächst mit höhnischem Katzengeschrei und wütenden Schmähungen begrüßte. Gladys ertrug das am Anfang schwer, aber in Johanna Lawsons eiserner Lehre gewöhnte sie sich bald an diese Empfänge. Auch zeigte die Erfahrung, daß man nur abwarten mußte; merkten die Dörfler, daß sie sich umsonst mühten, die »fremden Teufel auszutreiben«, so bekam ihre natürliche Neugierde die Oberhand. Sie umringten die beiden Fremden und hörten zu, wenn Frau Lawson sprach. Ja —schon nach kürzester Zeit zeigten sich besonders die Frauen so interessiert, daß sie selbst Fragen stellten. Staunend und halb verlegen starrten sie die großen, nicht eingebundenen Füße ihrer Besucherinnen an.
Täglich, stündlich übte Gladys Chinesisch. Es blieb ihr aber auch gar nichts anderes übrig, denn Frau Lawson war der einzige Mensch, der Englisch sprach. Sie konnte ohne Chinesisch nicht auskommen. Bald wußte sie ein paar biblische Geschichten auswendig und löste Frau Lawson abends beim Erzählen ab. Sogar Chang bestand darauf,
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