Eine unbegabte Frau
im offenen Hof unter der Balustrade liegen. Ihr Anblick erschreckte Gladys. Hanna lehnte neben einem Kohlenhaufen halb aufrecht an der Mauer. Sie war schwarz von Blut und Kohlenstaub. Gladys’ Atem stockte; sie glaubte, eine Tote vor sich zu haben. Aber als sie in ihrer Erregung zu ihr lief und sie anrief: »Hanna! Hanna!« wendete die Sterbende ein wenig den Kopf, und ihre Lippen bewegten sich. »Sind Sie es, Gladys?« flüsterte sie. »Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind.«
Tränen strömten über das Gesicht des Mädchens, während sie versuchte, es Hanna etwas bequemer zu machen. Es war schon fast dunkel. Sie stand auf und rief gebieterisch: »Bringt Laternen, damit ich etwas sehen kann! Sofort Laternen! Hört ihr!«
Als sie den energischen Befehl des zweiten »fremden Teufels« hörten, kam Leben in die Diener der Herberge. Papierlaternen schaukelten durch die Dunkelheit heran. Man brachte heißes Wasser, Gladys wusch Hannas offene Schnittwunden, und allmählich gelang es ihr, sich aus den Worten der halb Bewußtlosen ein Bild des Geschehenen zu machen. Offenbar hatte sie, noch in ihrer wütenden Laune, am nächsten Morgen die Herberge in Changs Obhut gelassen, ein Maultier gemietet und sich nach Westen auf den Weg gemacht. Sie war Bis Shin-Schui gekommen und hatte hier in dem alten Gasthaus ein Zimmer im ersten Stock gemietet. In der Dunkelheit war sie dann auf den Balkon hinausgetreten, um dem Koch eine Bestellung hinunterzurufen. Dabei hatte sie die Hand ausgestreckt, um sich, wie sie es in Yang Cheng gewohnt war, auf die Balustrade zu stützen. Hier aber war keine Balustrade, sie war längst abgefault. Hanna verlor das Gleichgewicht, stürzte vorwärts und abwärts und blieb auf dem Kohlenhaufen im Hof bewußtlos liegen.
Als Gladys sie wusch und mit Stoffstreifen verband, die sie von ihrer Unterwäsche abgerissen hatte, stellte sich erst die Schwere der Verletzungen heraus. Die arme Frau hatte alle Finger gebrochen; ihr Gesicht, ihr Körper waren böse zerschunden, und Kohlenstaub war überall in die Wunden eingedrungen. Weit schlimmer aber wurden ihre Qualen dadurch, daß sie offenbar das Rückgrat verletzt hatte; jede kleinste Bewegung verursachte ihr rasende Schmerzen.
Ihren Aufschrei im Fallen hatten die Chinesen in der Herberge gehört und waren herbeigeeilt, um ihr zu helfen. Sie hatten sie von dem Kohlenhaufen gehoben und unter die Veranda gelegt. Sonst wußten sie nichts weiter mit ihr anzufangen; sie hatten auch Angst vor der »Alten mit dem weißen Haar«. Im übrigen waren sie überzeugt, daß die Fremde rasch sterben würde, und so ließen sie sie allein. Von Zeit zu Zeit gaben sie ihr etwas Wasser, aber es war nutzlos, noch mehr an einen sterbenden »fremden Teufel« zu verschwenden. Sie verlangte auch nichts, sie war meist ohne Besinnung.
Daß Hanna sterben mußte, daran zweifelte nun auch Gladys nicht mehr. Sie hatte sie auf ihr Zimmer tragen lassen und tat alles, was sie konnte, um die Lage der Kranken zu erleichtern. Der nächste europäische Arzt war in Luan, sechs Tagereisen von hier; doch bei Hannas Zustand und in ihrem Alter war an einen solchen Transport nicht zu denken.
Gladys blieb sechs Wochen bei ihr im Gasthaus und ließ sie keine Stunde allein. Eine Besserung war jedoch kaum zu bemerken; die Wunden heilten, aber die Schmerzen ließen nicht nach, und zeitweilig schien es, als sei ihr Geist gestört. Nach diesen sechs Wochen faßte Gladys den Entschluß, sie nun doch auf irgendeine Weise in das Hospital von Luan zu schaffen. Es mußte sein, denn nur ärztliche Hilfe konnte sie vielleicht noch retten. Der Koch und der Kornlieferant sorgten für zwei Maultiere, zwischen denen sie eine dicke Decke spannen ließ. Darauf breitete sie eine Unterlage von Stroh und dann die Betten — das war eine bequeme Sänfte. Sie nahm Abschied von den Freunden, die sie inzwischen in Shin-Schui gefunden hatte, und machte sich mit ihrem Treiber — es war nicht der gleiche, der sie von Tsechow herbegleitet hatte, der war längst weitergezogen — auf die lange Reise nach Luan. Nach zwei Nächten in chinesischen Herbergen an der Maultierstraße, wo Gladys sorgfältig das Hineintragen der Kranken überwachte, kamen sie nach Yang Cheng und in die »Herberge zu den Acht Glückseligkeiten«. Chang hatte sie inzwischen als Herbergswirt mit Erfolg geleitet.
Er hatte hier eine Arbeit gefunden, die ihn für sein Alter sicherte und ihm außerdem Spaß machte. Gladys hörte seinem abendlichen
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