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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Geschichtenerzählen zu und erfuhr mit Erstaunen, wie Noah die Brote und Fische an die Fünftausend verteilte, als er in seiner Arche an der Küste des Sees von Galiläa entlangfuhr. Chang hatte nun einmal eine Schwäche für Noah, und warum sollte sein Held nicht ab und zu ein Wunder vollbringen? Er hörte Gladys’ Berichtigung ernsthaft und mit zustimmendem Kopfnicken an — aber sie hatte das Gefühl, wenn sie nur den Rücken kehrte, würde er den Noah gleich wieder in seine alten Ehren einsetzen. Frau Lawsons Unglück nahm er mit dem Fatalismus auf, der für einen Chinesen typisch ist. Die Götter hatten es so gewollt. Bald würde sie in Frieden zu ihren ehrwürdigen Ahnen eingehen. Mit glücklichem Lachen erklärte er sich bereit, bis zur Wiederkehr der beiden Frauen die Herberge zu führen.
    Frau Lawson wurde sofort in das Hospital aufgenommen, und Gladys blieb weitere vier Wochen an ihrem Krankenbett; man hatte auch für sie ein Zimmer im Hause freimachen können. Der Arzt gab auf ihre besorgten Fragen offene Auskunft. »Das Rückgrat ist leider verletzt, wir können wenig für Frau Lawson tun. Sie ist vierundsiebzig Jahre alt. Ihr Geist hat durch den Schrecken des Sturzes und durch die Verletzung Schaden genommen. Sie kann gelegentlich noch klare Stunden haben, doch allmählich wird die Lähmung um sich greifen und zum Tode führen. Der Zeitpunkt ist schwer vorauszusehen: einige Wochen oder ein paar Monate — das ist ungewiß. Dann geht ein langes, erfülltes Leben zu Ende; wir haben keinen Grund zu klagen.«
    Am gleichen Abend saß Gladys wieder am Bett der alten Freundin und hielt ihre Hand. Es schien einer der lichten Augenblicke der Kranken zu sein, die Augen blickten klar, ihre Gedanken ordneten sich. Leidenschaftlich flüsterte sie: »Gladys, können wir nicht nach Yang Cheng zurück? Ach bitte, nimm mich mit nach Haus!«
    Gladys blickte in das zerfurchte Gesicht der Frau, die ihr die Tore Chinas geöffnet hatte, die ihre Lehrmeisterin geworden war. Hier starb ein Mensch, der einmal vor langer Zeit von dem Ruf getroffen wurde, Gott zu dienen, und diesem Ruf gefolgt war bis zuletzt. Sie muß in jungen Jahren schön gewesen sein, dachte Gladys, als sie in das tiefe, reine Blau dieser Augen sah. Fast ihr ganzes Leben hatte Hanna dem Kampf um die Verbreitung des Gotteswortes in diesem fremden Erdteil geopfert. Ihr Mann war gestorben, aber auch als sie allein blieb, hatte sie unentwegt für dieses Ziel gearbeitet. Jetzt war sie dem Land und Volk, in dem sie geboren war, so ferngerückt, daß eine kleine Felsenstadt in Süd-Schansi ihr die Heimat bedeutete! Doch so hatte sie immer sterben wollen, Tränen sollte niemand um sie vergießen. Zu Gladys hatte sie einmal gesagt: »Wenn ich auf weinende Angehörige Wert legte, hätte ich in England bleiben können, um in einem Sanatorium oder in einem eleganten Privatkrankenhaus zu sterben.« Freiwillig hatte sie dieses Lebensende zwischen Abenteuer und Heldentum gewählt.
    »Wir gehen noch heute heim, Hanna«, sagte Gladys, über sie gebeugt. »Ich sehe jetzt gleich nach einer Sänfte, einer Tragbahre. Wir gehen nach Haus.« Und drei Stunden später brachen sie auf.
    Chang freute sich, als er seine beiden Herrinnen sah. Wie viele Freunde sie in ihrer Stadt hatten, erkannte Gladys heute zum erstenmal: alle kamen herbei, um die Zurückkehrenden zu begrüßen. Hanna Lawson war glücklich, in Yang Cheng zu sein, doch ihr Zustand verschlimmerte sich langsam, Lähmung und Verfall nahmen zu, wie der Arzt vorausgesagt hatte, und mit jedem Tag rückte das Ende näher.
    Das nächtliche Zimmer war von den wilden Fieberphantasien der Kranken erfüllt. Der Vollmond goß sein Licht in breiter Bahn durch das offene Fenster, stoßweise rüttelte der Novemberwind an den Läden, das gelbe Flämmchen der Öllampe flackerte unsicher. Gladys’ Schatten auf den Wänden, wenn sie hin und her ging, um die Kranke zu versorgen, glich einer großen, dunklen Spinne. Mit eingefallenen Zügen lag die alte Frau in den Kissen, doch ihre Lippen bewegten sich; unaufhörlich wiederholte sie in abgerissenen Sätzen die großen biblischen Gedanken, die ihr Leben von Jugend auf geleitet hatten:
    »Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein; ist aber dein Auge ein Schalk, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein?« Gladys trat auf die Veranda hinaus und

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