Eine unbegabte Frau
Dörfern durchgedrungen war, so besaß Gladys doch einen praktischen Glauben, dem eine Kraft und ein Glanz innewohnten, die weit über die zergliedernde Philosophie des Konfuzius hinausführten.
Drei Religionen sind vom chinesischen Volk aufgenommen worden und haben in der religiösen Ordnung des Tages ihren Platz eingenommen: Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus. Jede Hausgemeinschaft wird ihre Andacht in der Ahnenhalle verrichten, wo nach den Regeln des Konfuzius die Tafeln für die verehrten Toten aufgestellt sind; vor dem Schrein des Buddha aber werden sie Rauchwerk verbrennen; und wenn ein besonders wichtiger Tag bevorsteht — der erste Schulbesuch eines Sohnes, eine Hochzeit, ein Familienfest, ein Begräbnis — so wird der taoistische Priester befragt.
Gladys Aylward brachte eine neue Religion. Sie ritt über die wilden Berge dieses unzugänglichen Hochlandes und durfte dabei die tiefste Freude erleben, die einem christlichen Missionar beschieden sein kann. Unter diesem schlichten Bauernvolk fand sie nichts von dem spitzfindigen Widerstand und nichts von der Enttäuschung und Verzweiflung des Westens. Gladys brachte einen einfachen Glauben zu einfachen Menschen, einen Glauben, der ihnen geben konnte, was sie brauchten, und den viele ebenso inbrünstig aufnahmen wie die Angelsachsen, zu deren Waldlichtungen die Mönche Benedikts und Gregors kamen und ihnen eine neue, tröstliche Sicherheit schenkten: daß außerhalb dieses sterblichen Erdkreises ein ewiger Gott existiert, dessen Wesen Güte, Treue und Liebe ist.
Und doch gab es auch für sie Augenblicke des Zweifels und der Unschlüssigkeit. Sie erinnerte sich einer Nacht: nach einem langen Gespräch mit dem Mandarin hatten beide noch lange an der Rückseite des Yamen auf einem Balkon gestanden; vor ihren Füßen fiel der Berg steil ins Bodenlose ab, die sinkende Sonne tauchte die wilden Gipfel in glühendes Rot. Den tiefen Frieden dieser Stunde noch im Herzen, bog sie zurückkehrend in den Hof der Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten« ein und stieg zu ihrem Zimmer hinauf. Von der Galerie sah sie noch einmal hinunter in den Hof, wo die Maultiere sich zu dunklen Massen zusammenschoben, sich dann und wann leise regten, ein wenig schnaubten und mit den Schwänzen schlugen. Der Mond war eben aufgegangen und erhellte den kalten, klaren Berghimmel, an dem die Sterne blinkten. Ein Fächer gelben Lichts von den Rizinusöllampen im Erdgeschoß stahl sich durch eine Tür und lief über die brüchigen Steinplatten. Das Tor war geschlossen, das Gasthaus voll besetzt. Gladys ging hinunter in den Hof und zu dem Raum der Maultiertreiber, der warm und voller Gerüche war. Einen Augenblick verstummten die Gespräche, als Gladys eintrat. Sie plauderte ein paar Minuten mit den Treibern, dann setzte sie sich auf den Rand des K’ang und begann zu erzählen: »Es war einmal vor langer Zeit in einem fernen Land, genannt Israel; da lebte ein Mann mit Namen Jesus Christus...«
Wenn sie aufblickte, sah sie im Licht der flackernden Öllampen die Züge der Männer, die rund um sie herumsaßen, scharf und plastisch gezeichnet. Es waren einfache, freundliche Bauern, der Natur fast so nahe wie die Tiere, mit denen sie unterwegs waren. Sie wußte, daß ihre Augen glänzen und ihre Gesichter sich spannen würden, wenn sie in ihrem Bericht von dem Glauben fortfuhr, der die Macht hatte, über Europa hinweg sieben Kreuzzüge bewaffneter Ritter in das Heilige Land zu senden; der die Qualen der Jeanne d’Arc gelindert hatte, deren schmaler Körper als menschliche Fackel verbrannte, und der den Steinen, auf denen die westliche Zivilisation noch stand, einen festen Zusammenhalt gab. Sie hätte gern gewußt, ob in den kommenden Jahren ein lebendiger Rest des Glaubens, den sie predigte und der ihnen in ihren Sorgen und Nöten Hilfe bieten konnte, geblieben war.
Sie blickte Hsi-Lien an, den einfachen Maultiertreiber. Er war einer ihrer ersten Christen, und sie rechnete ihn zu ihren Freunden. Wenn sie ihn sah, mußte sie immer lächeln: er war der Führer jener Maultierkarawane gewesen, die sie mit Fist und Gewalt in den Hof ihrer Herberge gezogen hatte, und der dann beim unerwarteten Anblick von Johanna Lawson, dem zweiten »fremden Teufel«, die Flucht ergriffen hatte. Später hatten sie viel gelacht über dieses gemeinsame Erlebnis. Sein Zuhause war nur eine Tagereise von Yang Cheng entfernt, in Chauchun.
Aber — fragte sich Gladys — verstand er wirklich? Würde dieser Glaube, den
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