Eine unbegabte Frau
er angenommen hatte, standhalten auch in Zeiten der Prüfung? Die große Frage an jeden Christen!
Wenn Gladys später in der schweren Zeit an Hsi-Lien zurückdachte, ließ ihr oft die Frage keine Ruhe, ob sie an ihm schuldig geworden sei. Hätte sie in diesen ersten Jahren einen Blick in die Zukunft tun, die Tragödie, die ihm bevorstand, erkennen können wie hätte sie dann gehandelt? Hätte sie ihn fortschicken müssen, für immer fort vom Gasthaus der »Acht Glückseligkeiten«?
9. Kapitel
Friedevoll und in innerer Ruhe gingen für Gladys diese ersten Jahre in Yang Cheng dahin. Sie hatte Muße zum Denken, Zeit zum Schlafen und Sammlung zum Gebet. Die großen Ereignisse dieser Zeit prägten sich tief in ihr Gemüt und blieben unauslöschlich in ihrem Gedächtnis haften. Einmal, im Frühjahr, trat der Hoang-ho, der gewaltige Gelbe Fluß, über seine Ufer; in seinen ungeheuren Wassermassen ertranken Hunderte von Menschen, und Tausende wurden obdachlos. Die Menschen wichen vor dieser zerstörenden Gewalt immer weiter zurück, flüchtend kamen sie bis herauf in die Berge. In Strömen zogen sie durch Yang Cheng und weiter nach Tsechow, Shin-Schui und anderen Städten der Provinz.
Einer der nächsten Winter verwandelte die Wasser des Gelben Flusses, der die Westgrenze von Schansi bildete, in Eis. Kommunistische Truppen von Jenan und Schensi nutzten die Gelegenheit und überschritten die Eisdecke. Es war ein »Drei-Mäntel-Winter«, der kälteste, dessen man sich erinnern konnte. — In China rangiert man die Winter nach der Zahl der wattierten Mäntel, die man übereinanderziehen muß, um sich vor der schneidenden Kälte zu schützen. Ein Drei-Mäntel-Winter läßt immerhin den Tee in der Kanne gefrieren. Heftige Kämpfe um die Hauptstadt Taijüan weit im Norden brachten Unruhe ins Land; kommunistische Abteilungen gelangten über die Pässe, sogar bis in das weit südlich gelegene Yang Cheng. Die Truppe des Standorts Yang Cheng unter dem Kommando des Mandarins hatte sich gerade diesen Moment ausgesucht, um fern der Stadt Banditen zu verfolgen. Sie kehrten rasch zurück und machten nicht gerade gescheite Gesichter, als die kommunistische Besatzung schon wieder verschwunden war. Das Vorrücken der Kommunisten war wenig mehr als ein Aufklärungsmanöver gewesen; in der Stadt hatte es keinerlei Schäden gegeben, obgleich die Truppen in anderen Orten viel Schlimmes angerichtet hatten. Erst beim Eintreffen der Japaner sah man sie wieder.
Im Jahre 1936 beschloß Gladys, die chinesische Staatsangehörigkeit zu erwerben. Nichts sollte sie mehr vom chinesischen Volk trennen; es war besser, eine »chinesische Fremde« zu sein, als ein »fremder Teufel«. Mit Hilfe des Mandarins sandte sie ihre Papiere ein, erledigte alle Formalitäten und wurde naturalisierte Chinesin. Der Unterschied machte sich in ihrer Arbeit oder in ihren Beziehungen zum Stadtvolk von Yang Cheng nicht bemerkbar, aber ihr Zugehörigkeitsgefühl wurde nun noch verstärkt.
Ein trauriges Ereignis fiel in diese Jahre: ihre alte Freundin Mrs. Smith von der Tsechow-Mission wollte Gladys einen Besuch machen und erkrankte auf halbem Wege zwischen Tsechow und Yang Cheng. Die beiden Kulis, die ihre Maultiersänfte begleiteten, wußten nicht recht, ob sie so schnell wie möglich nach Yang Cheng weitereilen oder nach Tsechow zurückkehren sollten. Schließlich entschlossen sie sich für Yang Cheng. Als sie dort ankamen, hatte die alte Dame hohes Fieber und starb noch in der Nacht, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Gladys vermißte ihre Freundin sehr. Ein Jahr nach ihrem Tode wurde der vakante Missionarsposten neu besetzt, und Gladys machte sich auf die Reise, um Herrn und Frau Davis in Tsechow willkommen zu heißen.
Sie genoß diese gelegentlichen Ausflüge nach Tsechow sehr. Die Stadt lag in der Ebene, und obgleich eine Mauer sie umschloß, war sie doch viel größer als Yang Cheng. Sie war der Mittelpunkt von Südschansi, Endstation für Karawanen kleiner, dicklippiger braungoldener Kamele, die Stoffe, Seide und Tabak von Peking und den nördlichen Gebieten brachten und auf ihrer Rückreise Kohle und Eisenwaren, Porzellan und Baumwolle mitnahmen, die auf Maultierrücken aus dem Gebirge und vom Gelben Fluß in die Stadt getragen worden waren.
Gladys kam im Frühling, rund um Tsechow blühten die Aprikosen- und Pflaumen-, Pfirsich- und Dattelbäume. Von der einen Seite der Stadtmauer sah man in die engen, erstickenden Straßen der alten Stadt, von der
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