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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Man kann beide nicht aus der Menschheit hinwegdisputieren. Wir hoffen, daß sich vielleicht einmal der vollkommene Mensch entwickeln wird...«
    Und er ließ vor Gladys den chinesischen Begriff des »fürstlichen Menschen« erstehen. »Von ihm handelt eines jener vier klassischen Bücher, das zweite, dessen Titel lautet: >Der wahre Mensch«. Dieses Werk wurde von einem Enkel des Konfuzius zusammengestellt; das war nach dem europäischen Kalender etwa dreihundertdreißig Jahre vor der Geburt eures christlichen Propheten.
    In diesem Buch ist das Bild des vollkommenen Menschen beschrieben, der in allen Lebenslagen die Reife und die Kontur seines Wesens bewahrt, der durch seine innere Haltung als Muster an Tugend für alle nachfolgenden Generationen gilt. Der vollkommene Mensch ist niemals mit sich selber zufrieden. Wer zufrieden ist, ist nicht vollkommen.«
    »Mir scheint oft«, sagte Gladys, »daß das einzige, wonach euer Konfuzius strebte, die Ordnung eures Lebens auf Erden war. Wir im Westen glauben an ein Leben nach dem Tode. Wir glauben an einen immer anwesenden göttlichen Geist im Menschen. Sind eure Propheten bereit, um ihres Glaubens willen zu sterben?«
    In einer flachen Schale auf einem zierlichen roten Lacktisch schwamm eine blaßgelbe Lotosblüte. Der Mandarin nahm sie auf und betrachtete die wächserne Klarheit des geöffneten Kelches. »Jeder ist dazu bereit, der von der Wahrheit erfüllt ist«, erwiderte er. »Hören Sie, was Meng-tse sagt: >Ich liebe das Leben, und ich liebe die Gerechtigkeit, aber wenn ich nicht beides vereinigen kann, dann würde ich lieber das Leben aufgeben als die Gerechtigkeit. Meine Liebe zum Leben ist groß, und doch gibt es etwas, das ich mehr als das Leben liebe. Ich hasse den Tod, aber es gibt etwas, das ich tiefer hasse als den Tod.<«
    »Meng-tse«, erklärte der Mandarin, »war ein Lehrer, der zweihundert Jahre nach Konfuzius lebte. Seine Größe wird nur von dem Meister selbst übertroffen. Er glaubte, daß der Mensch von Natur aus gut sei. Alle Menschen sind von Natur aus tugendhaft, genauso, wie das Wasser von Natur aus abwärts fließt. Das Böse aber, das aus der Welt auf sie eindringt, befleckt sie.«
    Behutsam legte der Mandarin die Blüte wieder in die Schale zurück und schnippte ein Tröpfchen Wasser von den Fingerspitzen.
    »Ehe man die Examenshalle betritt«, sagte er, »muß man diese bedeutenden Bücher genauestens studiert haben und jederzeit in der Lage sein, sich ihren gesamten Inhalt ins Gedächtnis zurückzurufen. Man muß einen fließenden literarischen Stil und eine elegante Schrift erwerben. Dichterische Begabung wird ebenso verlangt wie höchste Sorgfalt, ja Fehlerlosigkeit in dieser Kunst, denn durch einen einzigen Mißgriff verspielt man seinen Titel. Endlich muß man für die Prüfung das Heilige Edikt von K’ang-hsi studieren und es von Anfang bis Ende auswendig lernen. Ist dieses Examen bestanden, so darf man den Titel >Kulturtalent< führen. Wer aber einen noch höheren Grad erreichen will, muß sich den Inhalt von fünf weiteren Bänden zu eigen machen und großenteils auswendig lernen; es sind die fünf klassischen Bücher. Sie werden von den Chinesen verehrt als die erhabensten Worte der Menschheit seit der Erschaffung der Welt; ihnen ist nichts mehr hinzuzufügen, nichts braucht von ihnen je gestrichen zu werden.«
    »So verbrauchen Sie also die meiste Zeit Ihres Lebens mit dem Studium von lauter alten Büchern?« fragte Gladys.
    »Soviel ich weiß, ist ein altes Buch auch die Grundlage Ihrer eigenen Religion«, erwiderte der Mandarin höflich; »aber es lohnt, für die Weisheit ein ganzes Menschenleben einzusetzen. Manche erreichen die höchste Stufe erst im hohen Alter.«
    »Doch wie steht es mit den Errungenschaften der übrigen Welt? Offenbar nimmt man in China wenig Notiz von der Geographie, Literatur, Geschichte, Mathematik und Philosophie anderer Länder?«
    Der Mandarin zuckte kaum merklich die Achseln. »Was den chinesischen Gelehrten betrifft, so existieren für ihn solche Dinge nicht. Sie sind außerhalb der Grenzen seines Bereiches; man hält sie für überflüssig.«
    Niemals während ihrer Gespräche mit dem Mandarin hinterließ seine Gegenwart bei Gladys ein Gefühl von Unzulänglichkeit oder Minderwertigkeit. Stets spürte sie, daß ihr festes Wissen um die christliche Wahrheit und seine klassische Gelehrsamkeit sich das Gleichgewicht hielten. Obgleich die Philosophie des Konfuzius bis zu den bescheidensten Bauern in ihren

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