Eine unbegabte Frau
chinesischen Rollbild entstiegen. Er liebte vornehme Geselligkeit. In seinem Yamen wurde das bürgerliche Recht in der gleichen Weise gehandhabt wie zur Zeit des Konfuzius. Seine Ratgeber und Gehilfen trugen uralte Ehrentitel, die ihre Ressorts gegeneinander abgrenzten.
In einem der inneren Höfe war den Frauen ihr Platz zugewiesen. Es waren keine Ehefrauen, nicht einmal Konkubinen, sondern Sklavinnen; junge liebreizende Geschöpfe, die mit Geldern des Yamen gekauft waren für die uralten und achtbaren Wonnen der Liebe. Gladys’ anfängliche Entrüstung über diese jahrhundertealte Sitte besänftigte sich schnell, als sie erkannte, welche Sauberkeit und welch kultivierter Anstand in dieser kleinen Welt herrschte. Die Mädchen wurden von älteren Frauen überwacht, die früher meist selbst Yamen-Mädchen gewesen waren und deren Töchter in den gleichen Beruf hineinwuchsen. Es waren fröhliche, bezaubernde Wesen, die im Gegensatz zu den Bürgerfrauen in Tanz, Gesang und Musik ausgebildet waren. Ihr Leben beschränkte sich auch nicht wie das der anderen Frauen auf die Abgeschlossenheit des Hauses; ihnen war erlaubt, durch die Basare zu trippeln und die ausgelegten Ballen weicher Seide mit ihren gepflegten Fingern zu befühlen, Schmuckkämme für ihr nach Blumenöl duftendes Haar zu erstehen und billige, mit bunten Steinen besetzte Armreifen und Spangen, die sie so sehr liebten. Gladys war mit vielen dieser jungen Mädchen befreundet, und oft, wenn sie den Mandarin besuchte, ging sie hinüber in den Frauenhof, um bei einer Tasse Tee mit ihnen zu schwatzen. Es besteht kein Zweifel, daß Gladys Aylward dem Mandarin von Yang Cheng zunächst so seltsam vorkam wie ein Wesen vom Mond. Sie war ein Mädchen, und das bedeutete in den Augen aller Männer, daß sie gesellschaftlich und geistig geringer war als Staub. Als ihm aber Berichte von ihrem für chinesische Begriffe höchst ungewöhnlichen Tun zu Ohren kamen, und als sie ihm monatelang immer wieder mit Gesuchen, mit dringenden Bitten, mit Ermahnungen und manchmal sogar leisen Drohungen zusetzte, begann er sie voll Verwunderung wie einen neu in die Himmelsbahn geworfenen Planeten zu betrachten. Je häufiger ihre Arbeit sie zusammenführte, desto herzlicher wurde ihre Bekanntschaft, und mit wachsendem Erstaunen erkannte der Mandarin von Yang Cheng, daß Gladys ihm nicht nur Ratgeber für viele Dinge geworden war, sondern auch ein Freund. Nach uralten chinesischen Maßstäben war er ein hochgebildeter Mann, aber sein Wissen bewegte sich in den Grenzen einer beschaulichen Gelehrsamkeit, wie sie die herkömmliche Erziehung in einer guten Familie bot.
Gladys schien von allen Winden der weiten Welt in seinen Yamen hineingefegt zu sein und blieb für ihn der Inbegriff alles Fremden. Sie vergaß niemals jene erste sanfte Mahnung, mit der er ihr antwortete, als sie einmal eine besonders leidenschaftliche Propagandarede vom Stapel gelassen hatte: »Ai-weh-deh«, sagte er milde und freundlich, »ihr sendet eure Missionare in unser Land, dessen Zivilisation doch viel älter ist als die eure, ihr betrachtet uns als ein Volk von Heiden und Barbaren, nicht wahr?«
Gladys neigte den Kopf zur Seite und sah fragend zu ihm auf. Sie wußte nun schon, daß solche kleinen geistigen Streitgespräche, meist in blumiger und überaus höflicher Form geführt, zum geselligen Leben gebildeter Chinesen gehörten.
»Aber keinesfalls!« sagte sie.
Der Mandarin schob seine schlanken Hände in die weiten Seidenärmel seines Gewandes.
»Chinesische Kunst und Philosophie haben Unvergängliches geleistet. Die chinesische Sprache gehört zu den schönsten und bildhaftesten der Welt. Dichter haben unser Land besungen, als Amerika noch von rothäutigen Indianern bewohnt war und Britannien nur ein nebliger Außenposten am Rande der bekannten Welt. Und nun kommen Sie und wollen uns einen neuen Glauben lehren! Ich finde das etwas sonderbar.«
Sie überhörte nicht den leisen Spott in seiner Stimme und war, auf das lebhafteste angeregt, gern bereit, weiter zu disputieren. Erst viele fahre später wurde ihr klar, daß sie das Ende einer Kultur miterlebte, die in vier Jahrtausenden chinesischer Geschichte langsam gewachsen war.
Schon bald sollte die Flut kommunistischer Gleichmacherei, auf der Trümmer westlichen Gedankenguts wie Treibholz schwammen, Altchina überschwemmen. Der Mandarin und seine ganze Kaste wurden ausgelöscht und vernichtet wie der Vogel Dronte oder die Dinosaurier. Durch einen Zeitraum von
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