Eine unbegabte Frau
Tausenden von Jahren waren die Schüler des Konfuzius die Diener und Lehrer Chinas gewesen; sehr bald nun sollten sie von den wortgewandten Kommissaren einer neuen Weltanschauung abgelöst werden. Dieser Umbruch des sozialen Gefüges war für China im Grunde wenig sinnvoll, denn Rang und Geburt hatten schon in der alten Ordnung der Dinge kaum eine Rolle gespielt. Seit Jahrtausenden waren die geistigen Führer des chinesischen Volkes, die in dem riesigen Reich immerhin ein Viertel der gesamten Menschheit erzogen, einzig auf Grund ihrer Kenntnisse und ihrer Weisheit zu ihren Stellungen aufgerückt. Nur durch Jahre intensiven Lernens konnte ein solcher Mann zu Führung und Autorität gelangen; für ihn war der Examenssaal der Hochschule das Schlachtfeld, auf dem sich seine Geschicklichkeit und seine geistige Überlegenheit zunächst bewähren mußten.
Von all diesen Dingen hörte Gladys viel in ihren langen Unterhaltungen mit dem Mandarin während jener zehn glücklichen Jahre. Lächelnd und mit höflicher Aufmerksamkeit half ihr der Mandarin über das leicht bedrückende Gefühl hinweg, daß sie selbst einem Kulturkreis entstammte, der einem Chinesen so viel rauher und unausgereifter erscheinen mußte. Er erzählte ihr von seiner eigenen Erziehung. Er sprach von den Jahrzehnten mühevoller, eindringender Studien, die nötig waren, um zu dem hohen Amt eines Mandarins von Yang Cheng aufzusteigen.
Als er sechs Jahre alt war, hatte sein Vater einen Astronomen aufgesucht, um von ihm die günstigste Konstellation der Gestirne für den Schulbesuch des Kindes errechnen zu lassen, und als dieser Tag gefunden war, hatte seine unbeschwerte Kindheit ein Ende. Am ersten Schultage trat er vor seinen Lehrer, sauber gekleidet, im blauen Gewand und roter Jacke, in gelben Beinkleidern und dem Seidenkäppi mit roter Troddel, das Kopfhaar frisch rasiert, außer dem runden Fleck, wo der lange, glänzende Zopf wuchs, der ihm über den Rücken herabhing. Er öffnete sein erstes Schulbuch; es handelte von den Pflichten eines Sohnes, vom Wesen des Mannes und von der Notwendigkeit der Erziehung. Drei Schriftzeichen stehen in dieser Fibel auf jeder Zeile, deshalb wird sie noch heute das »Drei-Schriftzeichen-Buch« genannt. Im ganzen enthält sie fünfhundert verschiedene Schriftzeichen, und jedes einzelne muß auswendig gelernt werden. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, mit nur kurzen Unterbrechungen durch die Mahlzeiten, mußten er und seine Mitschüler lernen; nur die Schreibstunden waren Pausen in dieser ungeheuren Gedächtnisarbeit. Doch auch sie waren ausgefüllt mit schwierigen Übungen: Tausende von Schriftzeichen mußte er sorgfältig mit einem Pinsel aus Zobelpelz oder Pferdehaar auf Reispapier malen und jedes hundertmal wiederholen, bis sie sich dem kleinen Menschen unauslöschbar eingeprägt hatten. In alten Zeiten war das Studium des Drei-Schriftzeichen-Buches so ziemlich alles, was chinesische Schulerziehung einem Jungen zu bieten wußte. Das Werk erschien vor tausend Jahren zunächst als Lernfibel und wird seitdem unverändert weiter benutzt bis auf den heutigen Tag. Das Studium sechs solcher Bücher umfaßt den ganzen Bildungsgang eines Knaben, der für den Lehrberuf bestimmt ist.
Weil seine Eltern in bescheidenem Wohlstand lebten und er selbst nach dem Königreich der Gelehrsamkeit trachtete, das, wie er wußte, nur durch Fleiß und Erfahrung in dem engen Raum eines menschlichen Schädels gegründet werden konnte, setzte der junge Mann seine Studien zielbewußt fort. Konfuzius war die Grundlage all seines Lernens. »Was Konfuzius lehrt, ist die Wahrheit. Was seiner Lehre widerspricht, ist falsch. Was er nicht lehrt, ist unnötig.« Es galt also, die vier umfangreichen klassischen Bände der konfuzianischen Philosophie zu studieren und sich geistig anzueignen.
Ein Punkt störte Gladys fast jedesmal in all ihren Gesprächen mit dem Mandarin. Warum hatten diese sorgfältig entwickelten Vorschriften für kultiviertes Benehmen, von denen der Mandarin ihr sprach, warum hatte dieses Gedankengut, von den weisesten Männern Chinas in unendlicher Generationenfolge verarbeitet, nicht eine Gesellschaft hervorgebracht, in der auch Götter wandeln konnten? Warum standen sich gerade in diesem Augenblick in jeder Provinz kriegführende Armeen, ehrgeizige Menschen machtgierig gegenüber: »Warum?« wiederholte sie.
»Warum?«
Der Mandarin spreizte seine langen, feinen Hände. »Immer schon hat es Soldaten und hat es Gelehrte gegeben.
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