Eine unbegabte Frau
anderen auf das wogende Korn, die Felder mit Mais, Senfsamen, Baumwolle, Hirse, Alfalfa und dunkelgrünen hochstämmigen Kaoliang bis hinüber zu den blauen Bergspitzen.
Jean Davis, die junge Missionarin, eine sympathische Schottin, würde wohl niemals ihre erste Begegnung mit Gladys vergessen: »... ein winzig kleines, dünnes Ding mit großen, dunklen, staunenden Augen«, sagte sie, »die den Schansidialekt herunterrasselte, als ob sie in dem Distrikt geboren wäre.« Und es war wirklich so; sie hatte nicht nur die Sprache gelernt, sondern sie war mit ihr verwachsen wie der Stein mit der Frucht, sie lebte in diesem Element wie ein Fisch im Wasser. Zwar gelang es ihr nie, richtig zu schreiben, aber sie sprach und dachte und träumte im Schansidialekt; zwischen ihr und den Menschen, mit denen sie lebte, gab es keine Sprachgrenze.
Die Ankunft der Davis’ mit ihrem Söhnchen bedeutete ein großes Glück für Gladys, denn die neuen Freunde wohnten nur zwei Tagereisen entfernt, jenseits der Berge. Die gleichen Interessen und die gleiche Arbeit verbanden sie bald in einem sehr herzlichen Verhältnis. David und Jean paßten sich schnell den neuen Umständen an, kleideten sich chinesisch und lebten wie die Chinesen. David Davis war ein magerer, sehniger junger Walliser, dreiunddreißig Jahre alt. Wie Gladys suchte auch er die einsamsten Dörfer auf, um christliche Gemeinschaften zu gründen; ihr Bezirk, den sie persönlich betreuten, umfaßte mehr als sechstausend Quadratkilometer. In vielen der abgelegenen Dörfer hatten die Bauern noch nie einen weißen Mann gesehen, geschweige denn eine weiße Frau!
David Davis war ein Mann von Mut und Entschlußkraft. Er hatte schon früher viele Jahre in China gelebt und Gelegenheit genug gehabt, diese Eigenschaften unter Beweis zu stellen. Ein Bauernhof in Südwales war seine Heimat, im Krieg 1914/18 hatte er bei den Fliegern gedient und war dann nach Wales zurückgekehrt, um in den Docks von Cardiff zu arbeiten. Später ging er nach China als Angestellter des Internationalen Zolls, und während dieser Zeit reifte in ihm die Überzeugung, daß er zur Missionsarbeit berufen sei. Er war immer ein gottesfürchtiger Mann gewesen, doch erst die Erkenntnis der verzweifelten Armut, Unwissenheit und Not der chinesischen Kulis hatte seinen Entschluß gefestigt. Die Internationale Zollstation, wo er arbeitete, lag am Hoang-ho. Die Quellen dieses Flusses werden vom Schnee des Himalaja gespeist; von seinem Ursprung an ist er von so gewaltiger Kraft und fortreißender Strömung, daß ein von zwanzigtausend Pferdestärken getriebenes Kanonenboot sich nur im Fußgängertempo durch seine Schluchten aufwärtszuarbeiten vermag. An David Davis’ Zollstation herrschte erstaunlich lebhafter Verkehr: die kommunistischen Truppen, die das Gebiet am Oberlauf des Flusses besetzt hielten, zahlten hohe Summen für Waffen- und Munitionslieferungen. Viele seiner Kollegen unter den Zollbeamten, die übrigens den verschiedensten Nationalitäten angehörten, waren bereit, bei diesem auffallenden Warenumsatz ein Auge zuzudrücken. David Davis dagegen blieb wachsam. Er fand, es gehöre nicht zu seinen Beamtenpflichten, den Kommunisten Waffen zuzuleiten. Einmal entdeckte er an Bord eines stromaufwärts fahrenden Schiffes eine beträchtliche Ladung geschickt versteckter Maschinenpistolen. Er beschlagnahmte die Ladung und übergab sie der Internationalen Behörde. Von diesem Tage ab war er unbeliebt bei den Kommunisten, die ihre Spione überall hatten. Und sie holten sich den Mann mit brutaler Frechheit, als gerade ein englisches Kanonenboot die Zollstation besuchte. Der Kapitän des Schiffes saß am Spätnachmittag mit Davis in dessen Bungalow, als plötzlich von den Bergen kommunistische Truppen im Sturmschritt zum Ufer marschierten, wo sie auf beiden Seiten des Stromes Maschinengewehre und leichte Artillerie aufbauten. Sie befahlen dem Kapitän, auf sein Schiff zurückzukehren, das sich unter den Mündungen ihrer Geschützrohre selbstverständlich nicht mehr rühren konnte. David Davis wurde in ein höher gelegenes Haus geführt, und dort teilte man ihm unumwunden mit, daß man ihn am nächsten Morgen hinzurichten gedenke. Als die Sonne aufging, schleppten die Kommunisten zunächst einen Chinesen heran, dem sie kurzerhand auf dem Grasplatz vor dem Hause den Kopf abschlugen — wahrscheinlich, um Davis von der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zu überzeugen. Fast im gleichen Augenblick tauchte an der Biegung des
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