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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Vormarsch könnte durch irgendein Wunder aufgehalten werden. Vielleicht waren alle Schrecken der Vergangenheit nur ein böser Traum gewesen — das Furchtbare konnte doch nicht noch einmal geschehen. Aber die Anordnungen des Kommandeurs der Chinesischen Nationalarmee zerstörten alle Illusionen. Sie waren eindeutig. Die »Strategie der verbrannten Erde« wurde befohlen. »Verbrennt eure Leichen. Zerstört eure Häuser. Nirgends darf der Angreifer ein Obdach finden!« Verzweifelt sahen die Bauern, wie die Hirse- und Reisfelder, von denen doch ihre ganze Existenz abhing, in Brand gesteckt wurden. »Was sollen wir tun?« fragten sie. »Wie sollen wir ohne Korn leben?«
    »Geht in die Berge«, war die Antwort. »Wohnt in den Höhlen und an den Abhängen, sät euer Korn in die Spalten und Klüfte, überall dort, wo ihr noch eine Krume guter Erde findet. Zehrt an den Eindringlingen wie Heuschrecken! Stehlt ihre Vorräte! Tötet die Männer! Nehmt die Gewehre von den Toten und gebraucht sie gegen den Feind. Nur so können wir China retten.«
    Gladys sah kummervoll zu ihrem klaffenden Dach hinauf. Die Bomben und das Winterwetter hatten die »Politik der verbrannten Erde« bereits befolgt.
    Der Mandarin war äußerst beunruhigt, er forderte Gladys auf, ihn zu besuchen. »Diese >Politik der verbrannten Erde< ist schwer durchzuführen. Wir haben fast alles getan, was die Soldaten forderten — aber wie es mit der Pagode des Skorpions werden soll, das weiß ich nicht...«
    »Was ist damit?« fragte Gladys. »Ein häßliches altes Ding!«
    »Sie wissen vielleicht, daß sich an diesen Tempel eine Legende knüpft. Vor Hunderten von Jahren, so wird erzählt, suchte ein Riesenskorpion unsere Berge heim und tötete viele Menschen. Doch während er schlief, schleppte das Volk große Steinblöcke herbei und errichtete eine Pagode über dem Skorpion, so daß er für immer gefangen saß. Nun fürchten die Stadtbewohner, daß der Skorpion entkommt, wenn sie sein Gefängnis niederreißen.«
    Gladys’ Brauen zogen sich zusammen. »Glauben Sie etwa an diese Altweibergeschichte?«
    Er lächelte. »Nein, ich glaube nicht daran; darum wünsche ich, daß Sie und Ihre Christen den Befehl zur Zerstörung ausführen.«
    »Mit dem größten Vergnügen«, entgegnete sie kurz und nicht ohne die Befriedigung des guten Christen, dem man die Vernichtung eines Werkes der Abgötterei gestattet.
    »Ich will auch die Leute von Bei Chai Chuang herbringen, und gleich morgen früh werden wir uns diesen gräßlichen Heidentempel vornehmen.«
    »Wenn ihr damit fertig seid«, fuhr der Mandarin fort, »gebe ich ein Fest, und ich möchte gern, daß Sie daran teilnehmen. Es wird wohl das letzte sein, das jemals in Yang Cheng gefeiert wird, denn wir müssen alles, was hier noch heil ist, zerstören. Am Tage dieses Festes möchte ich meinen Gästen etwas mitteilen, das Sie hören sollen.«
    Hundert kräftige Christen, ausgerüstet mit den verschiedensten Werkzeugen, erschienen schon früh am nächsten Morgen bei der Pagode. Es dauerte nicht lange, dann waren die Steine auseinandergeschlagen und zu Boden geschleift. Am nächsten Tag wurde des Mandarins Fest gefeiert. Zu ihrer Überraschung fand Gladys, die wie gewöhnlich die einzige Frau unter den Anwesenden war, dieses Mal ihren Platz direkt neben dem Mandarin — den Ehrenplatz zu seiner Rechten. Das war noch niemals der Fall gewesen. Alle bedeutenden Persönlichkeiten von Yang Cheng waren zugegen; der Gefängnisdirektor, zwei reiche Kaufleute, mehrere Beamte, zusammen etwa zwölf Gäste. Das Essen war einfach, im Gegensatz zu den üppigen Festen, denen sie in früheren Jahren beigewohnt hatte und die sich stets über viele Stunden ausdehnten.
    Gegen Ende des Festes stand der Mandarin auf und hielt eine Ansprache. Er erinnerte daran, wie Ai-weh-deh nach China gekommen war, wie sie gearbeitet hatte für alle, was sie für die Armen getan hatte, für die Kranken und die Gefangenen; er sprach von dem neuen Glauben, Christentum genannt, den sie hier verkündet und über den er bei vielen Gelegenheiten mit ihr diskutiert hatte. Gladys fühlte sich etwas verwirrt. Das alles klang wie die Rede eines Vereinsvorstandes drüben in England, so daß sie sich ein wenig frech und neugierig fragte, ob er ihr vielleicht zum Schluß eine Ehrenurkunde oder eine silberne Teekanne als besondere Auszeichnung überreichen würde; doch am Ende seiner Rede wandte er sich, sehr ernst geworden, ihr zu und sagte feierlich: »Ai-weh-deh, ich

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