Eine unbegabte Frau
wurde und welcher Schaden entstand? Ja, die Mutter, die ihr Kind verlor, würde es wissen, und die Frau, die tun ihren Gatten trauerte. Auch sie würden alt werden und vergessen, aber die ewige Wiederkehr von Geburt und Tod, Saat und Ernte blieb. Das Leben selbst war nicht auszutilgen: verbrenne es, töte es — niemals wird es ganz erlöschen. Fruchtbar wie die Läuse sind die Menschen, und schwerer zu vernichten. Gladys fand, daß Gott in diesen Bergmenschen prächtige Geschöpfe erschaffen hatte. Sie würde sie niemals vergessen können; sie waren zu einem Teil ihres Lebens geworden, ihr so nahe wie die Haut auf ihrem Leib.
In diesem Jahr schrieb Gladys ihrer Mutter einen Brief, auf einen Fetzen Papier hingekritzelt, in dem es wie im Neuen Testament hieß:
»Wünschet mich nicht aus all diesem heraus und versuchet nicht, auf irgendeine Weise mich von meinem Werk abzuhalten, wie lange auch die Prüfung dauern möge, denn ich will nicht fliehen vor dieser Heimsuchung. Diese Menschen sind mir von Gott anvertraut, und ich will mit ihnen leben oder sterben für Ihn und Seinen Ruhm.«
Der Londoner Sommer war in diesem Jahr heiß und einschläfernd, und die Bevölkerung wartete auf den Krieg. Die Libellen glitten mit schimmernden Flügeln über die glatte, grauglänzende Oberfläche der Themse, und die Menschen hoben Schützengräben in den Parks aus, als Zuflucht vor den anderen Flügeln, die sich wohl bald in den Wolken über ihnen ausspannen würden. Hinter Winston Churchills gemütlicher Kontur barg sich der gesammelte Widerstand eines Volkes; bald würde er vor das britische Commonwealth hintreten und es mit den uralten Worten Christi anfeuern, sich der großen Zeit würdig zu erweisen.
Es war vielleicht nicht einmal so sonderbar, daß die Worte, die die kleine Frau aus der Tiefe Chinas schrieb, ebenso ein Echo des Neuen Testaments waren wie die des großen Staatsmannes:
»Wünschet mich nicht aus all diesem heraus und versuchet nicht, auf irgendeine Weise mich von meinem Werk abzuhalten, wie lange auch die Prüfung dauern möge, denn ich will nicht fliehen vor dieser Heimsuchung.«
11. Kapitel
In dieser Nacht, im Hofe des kleinen Missionshauses in Shin Schui, faßte Gladys ihren Entschluß. Sie mußte fliehen, wenn der Feind weiter vorwärts drang. Nach Yang Cheng konnten sie nicht mehr zurück, es würde schon überrannt sein, und sie mußte deshalb versuchen, mit Thimothy und Wan Yü wieder nach Bei Chai Chuan zu gelangen, wo ihre Freunde und die anderen Kinder auf sie warteten. Sicherheit gab es nur bei Menschen, die man kannte und denen man vertrauen konnte. Chinesische Banditen vereinigten sich neuerdings mit größeren Räuberbanden, die sich aus obdachlosen Dorfbewohnern gebildet hatten, und wuchsen zu starken Partisanenverbänden an. Gesetzlos und wild, konnten sie oft grausamer unter ihrem eigenen Volk wüten als die Japaner. Gladys überlegte, daß sie und die Ihren der Begegnung mit vordringenden Japanern ausweichen konnten, wenn sie in die Berge gingen; gegen streunende chinesische Horden gab es keinen sicheren Schutz. Trotzdem mußte sie handeln.
Es war merkwürdig, dachte sie, wie mittelalterlich die Kriegführung geworden war. Die Waffen waren modern, aber die Strategie bediente sich kaum je schneller Manöver und plötzlicher Überraschungen. Das Terrain widersetzte sich allen wissenschaftlichen Prinzipien der Kriegführung, und so wurde ein Bajonettkrieg, ein Halsabschneiderkrieg daraus. Der Feind bewegte sich schwerfällig zu Fuß; die Städte erwachten tun Mitternacht von einer Stimme, die vor den Toren Drohungen ausstieß und zur Übergabe aufforderte. Wurde die Stadt trotzdem verteidigt, so waren Plünderung und Zerstörung ihr Los. Keine Genfer Konvention schützte Soldaten oder Bürger, kein internationales Gesetz zog der Unmenschlichkeit Grenzen.
Ganz früh am nächsten Morgen wunderten Gladys, Wan Yü und Thimothy durch das Stadttor, mit ihren Bündeln unter dem Arm. Noch hing die Dunkelheit über den Tälern, aber die Wolken über den Bergkämmen wurden schnell von der aufsteigenden Sonne durchleuchtet, und mit gellender Stimme verkündeten die Hähne, daß der Tag und daß die Japaner nahten.
Sie waren noch keine zehn Minuten gegangen, als Gladys eine eigentümliche, unbehagliche Erregung in sich aufsteigen fühlte. Nur noch ein Marsch von gut zwei Kilometern lag vor ihnen, ehe sie den natürlichen Schutz der Felsen und Berghänge erreicht hatten. Eine immer stärker werdende
Weitere Kostenlose Bücher