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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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einem Priester beim Stehlen ertappt, und beim Versuch zu entkommen, haben sie ihn ermordet.«
    »Hm —«, nickte Gladys. Sie konnte beim besten Willen nicht behaupten, daß sie die beiden gern um sich gehabt hätte; aber sie wollte sie wenigstens im Gefängnis besuchen.
    Acht mutlose Augenpaare blickten ihr entgegen. Gladys sprach mit den Männern und hörte von ihnen, daß sie zwar alle in weit abgelegenen Dörfern Verwandte hatten; aber es bestand keine Möglichkeit mehr, die Nachricht von der Amnestie noch vor der Ankunft der Japaner dorthin gelangen zu lassen. Impulsiv wandte sie sich zu dem Direktor: »Ich kann nicht für jeden neunzig Zhen bezahlen, aber sie können mit mir kommen, ich bürge für sie. Sobald ich in Bei Chai Chuang angekommen bin, werde ich Boten zu ihren Verwandten in den Dörfern schicken.«
    Sie war in Bei Chai Chuang, als ihr in den ersten Frühlingstagen die Botschaft überbracht wurde, daß Banditen ein Mitglied ihrer christlichen Gemeinde in einem Dorf nahe der Stadt Shin-Schui überfallen hatten. Obgleich er nur ein armer Mann war, hatte sich das Gerücht verbreitet, daß er Gold verborgen hielte. Die Räuber hatten, aus den Bergen hervorbrechend, sein Haus überfallen und ihn gefoltert, um von ihm das Versteck des sagenhaften Goldes zu erfahren.
    Mit einem ihrer Kinder, dem neunjährigen Thimothy, und der siebzehnjährigen Wan Yü, die in einem Dorf nicht weit von Shin-Schui lebte und ihre Eltern besuchen wollte, machte Gladys sich auf den Weg zu dem Ärmsten, um zu sehen, ob er Hilfe brauchte. Sie fand ihn in seinem Haus, es ging ihm sehr schlecht. Die Bande hatte ihn mit rotglühenden Eisen fürchterlich zugerichtet; Gladys verband seine Wunden und versuchte, ihm seine Schmerzen zu erleichtern, so gut sie konnte. Das Dorf lag in einem ruhigen, versteckten Tal, die Feldterrassen waren noch grün vom Frühlingskorn, alles schien so friedlich und heiter, daß Gladys die Tage bei dem Kranken wie Ferien genoß. Shin-Schui war zweieinhalb Tagereisen entfernt, Yang Cheng sogar noch weiter. Jeden Morgen kletterte Gladys auf eine der umliegenden Höhen, ließ sich dort oben nieder und freute sich an den Wolken und dem sich weithin erstreckenden tausendgestaltigen Gebirge.
    Diese friedliche Zeit aber war schnell vorbei. Von der kleinen christlichen Mission, die Gladys in Shin-Schui eingerichtet hatte, kam ein Bote angehetzt; er war fast den ganzen Weg gerannt.
    Die Japaner hatten ein zweites Mal Yang Cheng eingenommen, und vielleicht schon morgen konnten sie Shin-Schui überfallen. Die Mission hatte zweihundert Flüchtlinge aufgenommen — konnte Ai-weh-deh sofort kommen und helfen?
    Mit Thimothy und Wan Yü machte sie sich eilig auf den Weg. Das Dorf, in dem sie die erste Nacht verbracht hatten, lag noch keine drei Kilometer hinter ihnen, als das Geräusch eines Flugzeugs sie aufhorchen ließ, das direkt über ihren Köpfen zu einer weiten Kurve ansetzte. Sie warfen sich flach auf die Erde, und schon hörten sie in der Ferne die Bomben herniederpfeifen. Gladys wurde sofort klar, daß der Angriff Shin-Schui galt, das nur noch eine Tagereise von ihnen entfernt war.
    Am nächsten Morgen kamen sie an und sahen, was ihnen schon allzu vertraut war. Alle Bewohner waren vor einem großen Tempel im Mittelpunkt der Stadt zusammengerufen worden, wo der Mandarin von Shin-Schui eine Ansprache hielt. Die Stadt war bombardiert worden; sie mußten also mit der Ankunft des Feindes bald rechnen. Jeder Einwohner sollte die Stadt noch vor Anbruch des nächsten Tages verlassen.
    Während sie ihm zuhörte, prägte sich ihr das Bild fest ein: die große, schlanke Figur im Mandarinengewand auf den grauen Steinstufen des Tempels, die Pagodendächer und die dunkle Stadtmauer als Rahmen, alles eingefaßt von dem heißen blauen Sommerhimmel und dem weiten Rund der Berge. Sie versuchte sich vorzustellen, wie oft im Laufe der Jahrhunderte sich diese Szene schon wiederholt haben mochte. Die Eindringlinge kamen fast immer von Norden und brachten Blut und Tod und Zerstörung. Dann floh die Bevölkerung in die Berge, und wenn der Feind abgezogen war, kehrten sie zurück, um ihre Toten zu begraben und ihre Häuser neu aufzubauen. Von Generation zu Generation hatte sich immer wieder dasselbe abgespielt. Waren es nicht fremde Eindringlinge, dann waren es ehrgeizige Generäle aus den eigenen Reihen, die sich bekriegten. Wer würde sich in zehn Jahren noch erinnern, an welchem Tage die Japaner angegriffen hatten, wer getötet

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