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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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erschossen. Auf allen Plätzen, in den Tempeln, in den Basaren lagen die Toten — ausgestreckt oder zusammengeduckt, in grotesken Verrenkungen, Hände und Füße von sich gestreckt; auch Frauen und Kinder dazwischen. In der eckigen Steifheit des Todes lagen sie wie Holzblöcke am Boden, und die Hunde, diese schrecklichen herrenlosen Hunde, waren zu Menschenfressern geworden angesichts dieses Überflusses an Fleisch. Die Luft roch nach den Toten. Mit gefaßtem Gesicht ging Gladys die Hauptstraße entlang. Sie vergoß keine Tränen. Sie war jenseits von Mitleid und Tränen. Das Gefühl versagte vor diesen Leichenbergen in einem riesigen Totenhaus.
    Eine kleine Gruppe von Menschen drängte sich vor dem Yamen zusammen. Gladys bahnte sich einen Weg durch die unschlüssig Wartenden, und in einem der inneren Zimmer fand sie den Mandarin. Sein Gesicht war grau. Ohne Zögern begann Gladys zu sprechen.
    »Wir müssen sie begraben«, sagte sie erschöpft.
    Er nickte und strich sich mit der Hand über die Stirn. Wie Gladys war er erst heute morgen von seinem Bergdorf nach Yang Cheng gekommen, nachdem er von den Ereignissen gehört hatte. Von den Japanern war nichts mehr zu sehen in der Umgebung, und gleich ihr waren einige Bewohner nach Yang Cheng zurückgekehrt, um ihr Leben dort wieder aufzunehmen. Was sie hier antrafen, hatte keiner von ihnen erwartet. Wutentbrannt durch den Widerstand der Nationalchinesen, die den Truppen den Durchmarsch sperrten, hatten die Japaner die Stadt umzingelt, die Tore zerstört und alle Männer, Frauen und Kinder niedergemacht, die sie drinnen fanden. Nicht einmal Tschingis-Khan hätte gründlichere Arbeit leisten können.
    Außerhalb des Westtors wurde am Rande des Friedhofs, der schon die Opfer des Bombenangriffs aufgenommen hatte, ein tiefer Graben ausgehoben und die Toten in hohen Haufen hineingeworfen. Gladys fand selbst im Hof der Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten« drei Leichen, die sie am Berghang begrub. Bis zum späten Nachmittag blieb sie noch in der Stadt, aber übermannt von Schmerz und ganz elend vom Erleben dieses Tages beschloß sie, die Nacht nicht mehr hier zu verbringen, sondern sofort nach Bei Chai Chuang zurückzukehren. Sie ging durch die Straßen, vorbei an der gräßlichen Prozession der Bewohner, die die Leichen zu dem großen Graben brachten, und verließ die Stadt der Toten durch das Westtor.
    Gladys sah zurück nach Yang Cheng, das ihr in langen Jahren zur geliebten Heimat geworden war. Die Sonne stand niedrig, und die zerstörten Pagoden waren ohne ihre zierlichen Dächer nur noch plumpe Massen, die dunkel gegen den Himmel starrten. Über die schrecklichen Zerstörungen senkten sich die Schatten des Abends. Die Mauern stiegen noch immer gewaltig und mit mächtigem Schwung aus dem Fels. Man glaubte, eine unversehrte Stadt zu erblicken, eine Bergstadt voller Frieden und Schönheit, die ein wehrhaftes Volk sich in alter Zeit klug und mit weiser Voraussicht aufgebaut hatte. Aber Gladys wußte, daß trog, was ihr da vor Augen lag, eine leere Schale, eine Hülse — zwei kurze Wochen hatten Yang Cheng vernichtet.
    Sie konnte wohl zurückkehren und wieder in dieser Stadt leben, konnte das Dach ihrer Herberge erneuern; aber nie mehr würde es dasselbe sein. Keine Säuberung, kein Wiederaufbau konnte jemals die Erinnerung an diese schaurige Ernte des Todes auslöschen, diesen furchtbaren Anblick vergessen machen. Die Zeit des Friedens war vorbei. Das windgefegte Land in der großen Bergeinsamkeit, das sie so geliebt hatte, war zum Schlachtfeld geworden. Traurig ging sie den steinbesäten Weg weiter und kletterte langsam über die Berge, dem Dorf Bei Chai Chuang entgegen.

    Wie immer, war sie gleich nach der Morgendämmerung aufgestanden. Zehn Tage waren seit der Einnahme von Yang Cheng vergangen. Gladys verließ den Raum, den sie mit zehn anderen Frauen und Kindern teilte, ging über die Galerie die Treppe hinunter in den Hof. In der Küche leerte sie im Nu mit ihren Eßstäbchen eine dampfende Schüssel voll Hirse und schluckte brühheißen Tee aus einer kleinen chinesischen Schale. Draußen war es kalt, denn die Sonne hatte sich noch nicht über die Bergspitzen erhoben, und die Luft hatte einen würzig-scharfen Geruch. Einen Augenblick sah sie hinunter in das Tal und wieder hinüber zu den entfernten Höhen. Dann eilte sie zu ihrem im Dorf improvisierten Hospital, um mit ihrer täglichen Arbeit zu beginnen. Als sie die Höhle betrat, hoben die zehn Patienten die

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