Eine unbegabte Frau
Beklemmung und Angst legte sich Gladys aufs Herz, ohne sichtbare Ursache. Ihr Gehirn sandte kleine telegraphische Warnsignale aus: »halt, halt!«, und sie wußte aus Erfahrung, daß sie ihren Eingebungen unbedingt vertrauen konnte. Vielleicht schickten die Japaner zu beiden Seiten Patrouillen voraus? Vielleicht liefen sie in der Schlucht geradewegs einer solchen Patrouille in die Arme? Fast wäre ihr das schon einmal vor den Toren von Yang Cheng passiert. Streng blickte sie Thimothy und Wan Yü an.
»Wir gehen zurück!« sagte sie laut. Erstaunt sahen sie zu Gladys auf. »Aber warum?« fragte Wan Yü.
»Ich weiß nicht. Aber wir gehen!« entgegnete sie; gegen diese entschlossene Stimme war keine Auflehnung möglich. Sie ergriff Thimothys Hand, drehte sich auf dem Absatz herum und marschierte zurück zu den Stadttoren, Thimothy und Wan Yü hinter sich herziehend.
»Können wir nicht zu meinem Dorf gehen und da bleiben?« fragte Wan Yü eifrig. »Es liegt in einem Tal draußen vor dem Westtor. Mein Bruder wird für uns sorgen, er tut es sicher gem.«
»Gut, das wollen wir tun. Ich glaube, es ist zu gefährlich, wenn wir gerade jetzt versuchen würden, nach Bei Chai Chuang zu kommen.«
Sie hasteten durch das Osttor zurück. Die Straßen brodelten von Menschen. Männer, Frauen und Kinder, alle mit großen Bündeln und Haushaltgerät bepackt, strömten durch die Gassen zum Westtor. Als die drei so inmitten der Menge dahineilten, hörte Gladys eine Stimme hinter sich rufen: »Ai-weh-deh! Ai-weh-deh!« Sie sah sich um. Es war der Postmeister, ein kleiner, eifriger, wichtigtuerischer Kerl, den sie nur flüchtig kannte. Er schleppte ein umfangreiches, braun verpacktes und mit Bindfaden zusammengehaltenes Paket.
»Hier sind Briefe für Sie«, schnatterte er und versuchte vergeblich, sich durch die Menge näher an sie heranzurudern. »Ihre Post aus Yang Cheng! Und alle Postdokumente und Stempel sind auch drin. Können Sie bitte darauf aufpassen?«
»Aber warum wollen Sie das nicht selber tun?« rief Gladys ärgerlich zurück. »Warum packen Sie all Ihr Zeug mit meinen Briefen zusammen?«
»Ich fand es nötig. Bei Ihnen ist es am sichersten.«
»Aber es geht mich doch gar nichts an. Ich habe nichts mit dem Postamt zu tun...«, begann sie und verstummte mitten im Satz: im gleichen Moment hörten sie von dem Tor, durch das sie soeben in die Stadt zurückgekehrt waren, das Knattern von Feuersalven und die Schreckensschreie der Menschen. Die japanischen Vorausabteilungen! Wenn sie eine innere Stimme nicht gewarnt hätte, wären sie mitten in die feindliche Truppe hineinmarschiert! Sofort entstand eine Panik, alles drängte und rannte. Pakete und Bündel wurden in dem wilden Durcheinander weggeworfen oder verloren. Männer, Frauen und Kinder tauchten plötzlich wie Kaninchen aus ihrem Bau, aus Häusern und Gassen auf und vermehrten die Konfusion.
Der Postmeister — alle Verantwortung vergessend — warf Gladys das Paket vor die Füße und lief um sein Leben. Ohne zu überlegen, bückte sich Gladys und hob das Paket auf. Es war schwer und zu groß, sie konnte es nicht unter dem Arm tragen; so legte sie es oben auf ihr Bettzeug, umfaßte das Ganze mit beiden Armen und kämpfte sich weiter, fest entschlossen, die kostbaren Briefe von zu Hause nicht zu verlieren. Thimothy und Wan Yü rannten mit ihr; auch sie trugen schwer an Paketen mit Bibeln, die ihnen von der Mission übergeben worden waren.
Die Straße außerhalb des Westtors lief parallel mit dem schnell dahinplätschernden Chinfluß. Eine Furt, dreihundert Meter vom Stadttor entfernt, durchquerte ihn. Wan Yüs Dorf lag hoch oben in einem steilen Tale jenseits des Flusses. Die meisten der Stadtleute hasteten zu der Furt, und eingeklemmt in einen Schwarm von Flüchtlingen, durchwateten auch Gladys, Thimothy und Wan Yü den Fluß, dessen Wasser Gladys bis an die Brust reichte. Sie ließ ihr Bettzeug im Stich, balancierte das Postpaket mit einer Hand auf dem Kopf und hielt mit der anderen den kleinen Thimothy. Mitten im Strom dachte sie plötzlich, wie lächerlich dieses Bild war: Gladys Aylward fliehend vor den Japanern, ein braunes Paket mit den Utensilien des Postamts von Shin-Schui auf dem Kopf! Aber sie konnte nicht gut im Fluß stehenbleiben, um zu lachen. Die Kleider klebten den dreien am Körper, als sie das andere Ufer erreicht hatten und sofort den Berghang hinaufzuklettern begannen, angespornt vom Knattern des Gewehrfeuers hinter ihnen in den Straßen der
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