Eine unbeliebte Frau
blickte sie ungläubig und fassungslos drein, aber dann schlug sie die Hände vor den Mund und begann zu lachen. Ein Staudamm der lange zurückgehaltenen Ängste und Unterdrückung brach, sie lachte und lachte, geradezu hysterisch.
»Anna Lena«, zischte ihr Bruder, peinlich berührt von so viel offen zur Schau gestellter schadenfroher Befriedigung. »Hör doch auf!«
»Ich kann nicht«, sie schnappte nach Luft und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Das ist einfach herrlich.
O mein Gott, ist das herrlich! Wie ich ihm das gönne, diesem Schwein.«
Bodenstein stand im Schatten der Bäume des Bad Sodener Friedhofs. Die kleine Trauergemeinde, die lediglich aus Valentin Helfrich, seiner Frau Dorothee und einer älteren Frau bestand, verfolgte schweigend, wie sich der Sarg in das ausgehobene Grab senkte. Die Sargträger gingen zur Seite, der Pfarrer sprach ein paar Worte, die Bodenstein nicht verstehen konnte. Es gab keine Tränen, kein lautes Schluchzen, nur beherrschte Gesichter. Isabel Kerstner hatte ihrer Familie in ihrem Leben viel Kummer bereitet, und ihr früher und gewaltsamer Tod hatte diese wohl kaum noch mehr erschüttern können als das, was sie zu ihren Lebzeiten angerichtet hatte. Was für ein Gefühl musste es sein, das eigene Kind zu Grabe zu tragen? Bodenstein hatte Eltern und Geschwister von Menschen erlebt, die zu Mördern und Vergewaltigern geworden waren, er hatte ihre Fassungslosigkeit und ihr Entsetzen, aber auch ihre Hilflosigkeit kennengelernt. Sie alle hatten die Schuld für die Taten ihrer Kinder bei sich gesucht, sich mit Vorwürfen und Zweifeln gequält und furchtbar darunter gelitten. Mit Unbehagen überlegte Bodenstein, wie er empfinden würde, wenn sein Sohn oder seine Tochter eines Tages etwas so Entsetzliches tun würden, und er wusste, dass auch er sich vorwerfen würde, irgendwo an einem wichtigen Punkt als Vater versagt zu haben. Die Sargträger verbeugten sich würdevoll und traten zurück. Gemeinsam mit dem Pfarrer gingen sie und überließen die Familie ihrer Trauer. Sie hatten ihre Arbeit getan. Bodenstein sah zu, wie Valentin Helfrich vor das offene Grab trat, den Arm um die Schulter seiner Mutter gelegt. Er warf keine Erde auf den Sarg und auch keine Blumen. Mit trockenen Augen nahm er Abschied von seiner schönen Schwester, die ihn ihr Leben lang nur bitterenttäuscht hatte. Am Ausgang des Friedhofs sprach Bodenstein die Familie der toten Isabel Kerstner an.
»Ich bedaure, dass ich Sie in diesem Augenblick der Trauer stören muss«, sagte Bodenstein, nachdem er Valentin Helfrich und den beiden Frauen kondoliert hatte. Er erinnerte sich daran, dass Helfrichs Mutter an Alzheimer litt. Womöglich hatte sie überhaupt nicht begriffen, was sich soeben abgespielt hatte.
»Kein Problem«, erwiderte der Apotheker nach kurzem Zögern. Bodenstein fiel auf, dass Helfrich übernächtigt, beinahe krank aussah, als habe er seit Nächten nicht geschlafen. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Wangen eingefallen.
»Ich bringe Mutter zurück«, sagte Dorothee Helfrich. »Bis später.«
Valentin Helfrich half ihr, seine Mutter ins Auto zu setzen. Er wartete, bis sie weggefahren war, und wandte sich dann wieder Bodenstein zu. Der war in den letzten Stunden immer mehr zu dem Schluss gekommen, dass Helfrich trotz seines Alibis etwas mit dem Tod seiner Schwester zu tun haben könnte. Er war einer der lachenden, jungen Männer auf dem Foto in der Pferdeklinik, ein enger Freund von Kerstner und Rittendorf, und er hatte das Tun seiner Schwester zutiefst missbilligt.
»Herr Helfrich«, begann er nach kurzem Zögern, »warum haben Sie sich am Nachmittag des 27. August mit Ihrer Schwester auf dem McDonald's-Parkplatz getroffen?«
»Sie wollte dieses Treffen«, Valentin Helfrich verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Sie vermuten, dass ich etwas mit dem Tod meiner Schwester zu tun haben könnte, nicht wahr?«
»Ich habe den Eindruck, dass Sie Ihre Schwester für das, was sie Ihren Freunden angetan hat, hassten«, antwortete Bodenstein.
»Hass ist ein zu großes Wort«, Helfrichs Stimme klang flach. »Ich habe sie verachtet. Meine Schwester hat ungeheuerliche Dinge getan. Unverzeihliches. Sie hat einen meiner besten Freunde auf dem Gewissen und einem anderen Freund das Leben zur Hölle gemacht. Sie hat sich meinen Eltern gegenüber unglaublich schlecht benommen. Aber gehasst habe ich sie nicht.«
»Ihr Freund Georg Rittendorf schon«, entgegnete Bodenstein. »Das stimmt«,
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