Eine unbeliebte Frau
Pia ahnte, weshalb. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie die schöne, schlanke Isabel auf diese Frauen gewirkt haben musste.
»Gab es denn jemanden hier im Stall, mit dem Isabel befreundet war?«, fragte Pia nun. »Frau Kampmann sagte uns, dass sie recht beliebt gewesen ist.«
»Beliebt ist wohl nicht das richtige Wort«, sagte Frau Neumeyer, »eher vielleicht ›gefürchtet‹. Niemand hat sich mit ihr angelegt. Sie hatte einen guten Draht zu Kampmann und den Jagodas, und mit denen will es sich niemand verderben.«
»Was meinen Sie mit ›sie hatte einen guten Draht‹ zu ihnen?«, wollte Pia wissen.
»Na ja«, Frau Neumeyer zuckte die Schultern, »sie hat schließlich die Pferde geritten, die Kampmann im Auftrag von Gut Waldhof zum Wiederverkauf angeschafft hat. Er hat Isabel trainiert, ist mit ihr auf Turniere gefahren.«
»Das hat er übrigens nur bei ihr gemacht«, bemerkte Frau Payden spitz, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Kampmann außer Hörweite ritt. »Wir haben drei Pferde von ihm gekauft, aber mit unserer Tochter ist er nie aufs Turnier gefahren.«
Pia konstatierte die Missgunst, die aus diesen Wortensprach. Offenbar war es auf dieser vornehmen Reitanlage nicht anders als in anderen Reitställen auch. Sie kannte das Phänomen, dass die weiblichen Kundinnen, häufig in der Überzahl, nahezu verzweifelt um die Gunst des einzigen Reitlehrers buhlten und sich gegenseitig eifersüchtig beäugten, schlechtmachten und gnadenlos auf das eigene gute Ansehen und den eigenen Vorteil bedacht waren.
»Woran lag es, dass Herr Kampmann sich mehr um Isabel Kerstner kümmerte als um die anderen Kunden?«, fragte Pia interessiert. »Wollen Sie andeuten, dass zwischen den beiden etwas lief?«
»Natürlich lief etwas zwischen den beiden«, behauptete Frau Groß und bekam keinen Widerspruch von den beiden anderen Damen, »mit Kampmann und Isabel hatten sich zwei verwandte Seelen gefunden. Den beiden ging es nur um Geld und ihren persönlichen Vorteil.«
So unumstritten, wie Pia es zuerst gedacht hatte, schien Kampmann auf Gut Waldhof nicht zu sein.
Bodenstein setzte die junge Frau auf einen der Stühle.
»Entschuldigen Sie bitte«, murmelte die Frau undeutlich.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«, fragte Bodenstein besorgt, und als sie den Kopf schüttelte, betrachtete er die Wunden und Prellungen in dem Gesicht, das unter normalen Umständen einigermaßen hübsch sein musste.
»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte er. »Hatten Sie einen Unfall?«
»Nicht der Rede wert«, die Frau verzog das Gesicht, dann straffte sie die Schultern. »Mein Name ist Anna Lena Döring. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich am Samstagabend von halb sieben bis morgens um vier mit Herrn Dr. Kerstner zusammen war.«
Bodenstein richtete sich auf. Das war also die Person, nachder er gesucht hatte und die Kerstner schützen wollte! Vor den Fenstern ertönte das Heulen einer Polizeisirene, das sich langsam entfernte. Die Frau saß sehr aufrecht auf der vordersten Kante des Stuhles, die Hände lagen auf ihren Knien. Sie hatte große blaue Augen, die aber dunkel vor Sorge und Angst waren.
»Micha kann seine Frau nicht getötet haben«, dank der geschwollenen Lippen klang ihre Stimme undeutlich. »Ich war die ganze fragliche Zeit über bei ihm.«
»In welcher Beziehung stehen Sie zu Herrn Dr. Kerstner?«
»Wir kennen uns schon ziemlich lange und sind befreundet. Er ist ein Freund meines Bruders, und außerdem werden in unserem Stall fast alle Pferde von ihm und seinem Kollegen betreut.«
»Sie besitzen einen eigenen Stall?«
»Nein. Wir haben vier Pferde auf Gut Waldhof stehen.«
Bodenstein ging im Geiste die Namenliste durch, die Pia ihm am Vortag in Kopie gegeben hatte, konnte sich aber nicht erinnern, den Namen »Döring« gelesen zu haben.
»Erzählen Sie mir vom letzten Samstag«, bat er die Frau. Er bemerkte ihre Anspannung, die Angst in ihren Augen, und er fragte sich, was mit ihrem Gesicht geschehen war.
»Mein Mann und ich waren an dem Nachmittag auf einem Reitturnier«, begann Anna Lena Döring und blickte für einen Moment ins Leere, als müsse sie sich die Chronologie der Ereignisse erst wieder ins Gedächtnis rufen. »Mein Mann reitet Springen. Carolus, eigentlich unser bestes Pferd, ließ ihn an diesem Tag am Wassergraben im Stich, so dass er im wichtigsten Springen ausschied. Mein Mann war deswegen sehr aufgebracht. Wir fuhren vom Turnier zurück, und im Stall holte er das noch
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