Eine unbeliebte Frau
Döring.
»Wir werden Ihre Aussagen überprüfen«, erwiderte Bodenstein zurückhaltend. »Auf jeden Fall war es sehr freundlich von Ihnen hierherzukommen, um Herrn Dr. Kerstner zu entlasten. Er hat uns bisher Ihren Namen nicht sagen wollen.«
Anna Lena Dörings Gesichtsausdruck wurde hoffnungslos.
»Das hat auch seinen Grund«, sagte sie dumpf. »Mein Mann weiß bis jetzt nicht, wo ich bin. Ich werde auch nicht mehr zu ihm zurückgehen.«
Als Bodenstein sie hinaus auf den Flur begleitete, nahm er sich vor, diesem Herrn Döring selbst einen Besuch abzustatten. Auf dem schmucklosen Gang saßen Kerstner und seinAnwalt auf den orangefarbenen Plastikstühlen. Dr. Clasing sprang auf, als er Anna Lena Döring erblickte.
»Anna!«, rief er überrascht. »Was machst du denn hier?«
Bodenstein blickte verwirrt zwischen Frau Döring und Kerstners Anwalt hin und her.
»Hallo, Flori«, sagte Frau Döring.
»Sie kennen sich?«, erkundigte sich Bodenstein.
»Natürlich«, erwiderte Dr. Clasing, »Anna ist meine Schwester.«
Das war die Erklärung für Clasings rasches Auftauchen. Er und Kerstner waren Freunde. Anna Lena schaute an ihrem Bruder vorbei, hatte nur noch Augen für Kerstner, der sich nun ebenfalls erhoben hatte. Ihre Blicke trafen sich.
»Nehmen Sie ihm die Handschellen ab«, sagte Bodenstein zu dem Vollzugsbeamten, der Kerstner aus dem Untersuchungsgefängnis auf das Kommissariat begleitet hatte. Kerstner wandte seine Augen nicht von Anna Lena Dörings Gesicht, während der Polizist die Handschellen löste. Sie versuchte ihn anzulächeln, aber plötzlich brachen sich die lange zurückgehaltenen Tränen Bahn. Er legte die Arme um sie und hielt sie fest an sich gedrückt, sein Gesicht in ihrem Haar verborgen, während sie verzweifelt schluchzte.
Reitlehrer Kampmann war noch immer schwer beschäftigt. Er longierte mittlerweile in der brütendheißen Reithalle ein Pferd.
Pia schlenderte über die weitläufige Reitanlage, während sie darauf wartete, dass er mit seiner Arbeit fertig war. Frau Kampmann brauste mit dem silbernen Geländewagen vom Hof und winkte ihr strahlend zu, als sei sie eine alte Freundin der Familie. Sie wirkte, als stehe sie mächtig unter Strom. Auf dem oberen Hof erblickte Pia zwei junge Frauen. Die eine saß auf der Bank in der Sonne, die andere spritzte ihrem Pferdmit einem Wasserschlauch die Beine ab. In diesem Moment piepte Pias Handy. Sie hatte eine SMS von ihrem Schwager Ralf erhalten, dem sie gestern Abend noch eine E-Mail geschrieben hatte. Ralf war nicht weniger erfolgreich als sein älterer Bruder Henning, wenngleich in einem völlig anderen Metier. Er besaß eine Risikokapitalgesellschaft – neudeutsch auch Venture Capitalist genannt – und hatte in der Vergangenheit ein Vermögen mit der Betreuung und Finanzierung von sogenannten Start-ups verdient. Pia hatte ihn um Informationen über die JagoPharm AG und deren Inhaber und Vorstandsvorsitzenden Hans Peter Jagoda gebeten.
»Holde Schwägerin«, schrieb er, und Pia musste grinsen, »bin in NY, melde mich, sobald zurück. Eins vorweg: Es gibt Gerüchte, dass die J bankrott ist und mächtig Ärger bekommt. Kauf bloß keine Aktien! Bis bald, RH.«
Aufschlussreich. Und genau das, was Bodenstein gesagt hatte. Dem ehemaligen Börsenstar Jagoda schien es längst nicht mehr so gut zu gehen wie noch vor ein paar Jahren. Pia ging zu den beiden jungen Damen hinüber und stellte sich ihnen vor. Die eine war Anfang zwanzig mit sehr kurz geschnittenem Blondhaar, klaren, fast androgynen Gesichtszügen und dem ungewöhnlichen Vornamen Thordis. Sie strahlte die selbstbewusste Arroganz einer Tochter aus reichem Hause aus, die noch nie einen Finger hatte krumm machen müssen und an einem Dienstagvormittag sorglos reiten gehen konnte. Anke Schauer war klein, dunkelhaarig und hübsch, aber mit unreiner Haut geschlagen. Auch sie machte den Eindruck, als sei sie von Beruf Tochter. Sie hatte in diesem noblen Stall, in dem eine Box im Monat über vierhundert Euro kostete, sogar zwei Pferde stehen. Und die bezahlte sicherlich der reiche Papi. Die beiden jungen Frauen gaben an, dass sie Isabel gekannt hatten und gelegentlich auch abends gemeinsam ausgegangen waren.
»Wieso interessiert Sie das alles?« Anke Schauer schnippte die Zigarettenkippe weg.
»Wir suchen Isabels Mörder«, erwiderte Pia, »deshalb möchte ich gerne mehr über ihr Umfeld, ihre Freunde und Bekannten erfahren. Bisher wissen wir nur, dass sie hier im Stall nicht besonders
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