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Eine unbeliebte Frau

Titel: Eine unbeliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Haar.
    »Schätzungsweise um die dreißig«, der Rechtsmediziner schürzte nachdenklich die Lippen.
    »Kleidung, Schmuck, besondere Kennzeichen?«
    »Nichts. Sie war splitternackt«, Kirchhoff beugte sich über die Leiche und nahm nacheinander beide Hände in seine behandschuhte Rechte, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. »Keine Einkerbung, die auf das Tragen eines Ringes schließen ließe.«
    Er stand auf.
    »Morgen Mittag nach der Obduktion kann ich Ihnen mehr sagen.«
    »Okay. Sie können mich auf dem Handy erreichen«, sagte Bodenstein. »So lange, bis das Gegenteil bewiesen ist oder die Frau lebendig auftaucht, müssen wir leider davon ausgehen, dass es sich bei der Toten um Anna Lena Döring handelt.«
    Er wandte sich ab. Eine tiefe Mutlosigkeit hatte ihn ergriffen. In diesem Augenblick widerte ihn sein Job zutiefst an.
    »Wir sehen uns morgen früh in der Rechtsmedizin«, sagte er zu Kirchhoff und fügte mit zusammengebissenen Zähnen hinzu, »Döring wird sich nämlich diese Leiche ansehen dürfen.«
    Der Arzt nickte und zog die Latexhandschuhe aus. »Ich habe gehört, dass Sie seit ein paar Wochen mit meiner Frau zusammenarbeiten«, sagte er scheinbar beiläufig.
    »Ja, das stimmt. Seit einem guten Monat.«
    Dr. Henning Kirchhoff war ein hochgewachsener Mann mit einem dunklen, sorgfältig ausrasierten Bart. Er hatte die gleiche hohe Stirn und die feingeschnittenen Lippen wie sein Bruder. Ein attraktiver Mann, kultiviert und hochintelligent, mit dem gelassenen Selbstbewusstsein eines Menschen, der weiß, was er kann. Für einen Moment schien es, als ob Kirchhoff noch etwas fragen wollte, aber dann wandte er den Blick ab.
    »Richten Sie ihr einen Gruß von mir aus«, sagte er nur. »Mach ich«, Bodenstein nickte ihm zu. »Gute Nacht.«
     
    Er ging den Uferdamm hinauf. Thordis war aus dem Auto ausgestiegen und lehnte am Kotflügel des BMW.
    »Und?«, fragte sie besorgt. »Ist es Anna?«
    Bodenstein bemerkte, dass sie tatsächlich einen Sinn für das Schicksal hinter alldem zu haben schien. Seine Sympathie für die junge Frau wuchs durch das Fehlen jeglicher Sensationslust in ihren Augen.
    »Das war leider nicht zu erkennen«, sagte er, »wir müssen die Obduktion morgen abwarten. Steigen Sie ein. Kann ich Sie irgendwo absetzen?«
    »Nein. Ich bin mit der S-Bahn in die Stadt gefahren. Mein Auto steht am S-Bahnhof in Bad Soden.«
    »Wieso denn das?« Bodenstein blickte sie übers Autodach hinweg an. »Waren Sie so sicher, dass Sie jemanden finden, der Sie dorthin zurückfährt?«
    Thordis erwiderte seinen Blick erst ungläubig, dann stieß sie ein kleines, verächtliches Schnauben aus.
    »Ich habe echt gedacht, Sie sind nicht so«, sagte sie zu seiner Überraschung, »aber offenbar werten Sie meine Hilfsbereitschaft als Anmache. Vielen Dank, Sie sind mir zwanzig Jahre zu alt.«
    Bodenstein starrte sie wie vom Donner gerührt an und spürte, wie sich eine vom Hals aufsteigende Röte auf seinem Gesicht ausbreitete. Er kam sich vor wie ein Idiot. Wie ein alter Idiot. Zuerst wollte er ihr widersprechen, aber dann wurde ihm bewusst, dass er ja tatsächlich eine Weile angenommen hatte, sie wolle ihn anmachen.
    »Quatsch«, sagte er knapp. »Steigen Sie ein. Ich fahre Sie zu Ihrem Auto.«
    »Sparen Sie sich die Mühe. Ich fahre mit der S-Bahn.«
    »Jetzt fährt aber keine.«
    »Dann nehme ich mir ein Taxi.«
    »Ich habe echt gedacht, Sie sind nicht so«, äffte Bodenstein sie nach.
    »Was meinen Sie damit?«
    Noch immer starrten sie sich über das Autodach hinweg an.
    »Ein zickiges, kleines Mädchen.«
    »Ich bin nicht zickig«, entgegnete sie kühl. »Und ein kleines Mädchen war ich vor zehn Jahren.«
    »Wollen Sie jetzt mitfahren oder nicht? Ich bin müde, und ich wollte heute Nacht wenigstens noch ein paar Stunden schlafen«, er setzte sich hinters Steuer und musste ein Grinsen unterdrücken, als sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
    Während er wendete, das Museumsufer entlang und über die Mainbrücke am Hauptbahnhof vorbeifuhr, blickte sie unnahbar geradeaus und schwieg.
    »Ich gebe zu«, sagte Bodenstein, als sie an der Frankfurter Messe vorbeifuhren, »dass ich vorhin wirklich für einen Moment angenommen habe, Sie hätten sich von unserem Treffen ein wenig mehr versprochen als eine Caipirinha und eine Wasserleiche.«
    Thordis blickte stur durch die Windschutzscheibe, die gerade, stolze Haltung ihres Körpers verriet, dass sie beleidigtwar, und das tat Bodenstein leid. Sie hatte ihm geholfen. Doch

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