Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)
können.
So überrumpelte sie ein Makler, indem er es verstand, den Eindruck zu erwecken, er käme von einer Behörde. Ehe Lena recht begriffen hatte, was los war, stand der Mann schon in ihrer Eingangshalle, sah sich um und sagte, sie solle das Haus verkaufen, es sei viel zu groß für sie. »Die vielen Räume! Da sind Sie ja nur am Putzen. Von den anstehenden Reparaturen ganz zu schweigen. An denen zahlen Sie sich tot, und wofür?«
Lena erklärte ihm kühl, das Haus sei seit über hundert Jahren im Besitz ihrer Familie und nichts käme weniger in Frage, als es zu veräußern.
Der Mann hob die Schultern. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass solche alten Herrenhäuser heutzutage sehr gesucht sind. Organisationen und Firmen, die einen repräsentativen Sitz wünschen, sind bereit, dafür viel Geld zu zahlen. Sie hätten ausgesorgt, um es plastisch auszudrücken. Überlegen Sie es sich. Sie bekämen leicht anderswo ein schönes kleines Haus oder eine komfortable Wohnung und hätten genug Vermögen übrig, um den Rest Ihres Lebens finanziell unabhängig zu sein.«
»Ich bin noch jung«, sagte Lena.
»Gerade deshalb sage ich es«, erwiderte der Makler und reichte ihr seine Karte. »Hier, für alle Fälle. Sie erreichen mich jederzeit, auch an den Feiertagen.«
Lena nahm die Karte und legte sie, nachdem der Mann gegangen war, auf den großen, staubigen Stapel Werbepost im Flur neben dem Telefon, den zu entsorgen es wirklich höchste Zeit wurde. Gleich nach Weihnachten und noch vor Silvester, schwor sie sich.
Ihr Haus zu verkaufen, was für eine Idee! Ihr Urgroßvater, ein Fabrikant, hatte es erbaut und mit zwei Ehefrauen insgesamt elf Kinder darin großgezogen. Ihr Großvater hatte es noch auf vier Kinder gebracht, wozu fünf Ehen notwendig gewesen waren, und ihr Vater und ihre Mutter schließlich hatten nur ein einziges Kind bekommen: Lena, die ihrerseits kinderlos war und es, wie es aussah, auch bleiben würde.
Doch war das wichtig? Dies war ihr Zuhause, war es immer gewesen. Ihr Schloss. Ihre Burg. Wenn sie die eichene Haustür hinter sich zuzog, kam es ihr immer noch so vor, als zöge sie eine Fallbrücke hoch. Die Zinnen um das Dach herum erschienen ihr seit Kindertagen wie Wehrgänge, die Erker an den Hausecken wie Wachtürme.
Groß war es, ja. Drei Etagen, das Erdgeschoss mit herrschaftlich hohen Decken und einer imposanten Treppe hinauf in die oberen Stockwerke …
Was hatte es nur auf sich mit diesem verdammten Weihnachten, diesem so raumgreifenden Kalendereintrag, dass es ihr vorkam, als sei das Haus größer und stiller und leerer als sonst? Eine Halluzination, weiter nichts. Vaters Tod hatte schließlich an den tatsächlichen Verhältnissen nichts geändert; dass ihr nach seinem Schlaganfall vor dreieinhalb Jahren keine andere Wahl geblieben war, als ihn in ein Pflegeheim zu geben, war doch die weitaus dramatischere Veränderung der Situation gewesen!
Alle zwei Wochen mindestens hatte Lena ihn besucht. Zwei Stunden mit dem Auto waren das immer gewesen, über schmale Straßen zwischen Kuhweiden und Feldern, vorbei an Höfen, in denen Hühner frei herumliefen. Das Heim selber lag am Rand eines ehrfurchteinflößenden Waldes, aus dem manchmal Rehe traten und mit furchtsamer Neugier die Bauwerke der Menschen musterten. Über die Weihnachtsfeiertage hatte Lena sich dann jeweils in einem Gasthof im Dorf ein Zimmer genommen, immer dasselbe, mit einem Blick auf den Bach hinter dem Haus, an dessen Ufer sich stets ein paar Enten und Gänse zu schaffen machten, selbst im Winter.
Zum Schluss hatte Lena nur noch verfolgen können, wie der Geist ihres Vaters zerfiel, und als schließlich der Anruf der Heimleiterin kam, er sei friedlich eingeschlafen, war es beinah eine Erlösung gewesen. Lena ließ ihn neben ihrer Mutter begraben, deren Tod zwölf Jahre zuvor sie zum Anlass genommen hatte, ihrem Studium der Germanistik den Rücken zu kehren, wieder nach Hause zu ziehen und ihrem Vater den Haushalt zu führen, da er das selbst nicht gekonnt hätte; er hatte noch zu jener Generation gehört, die in haushälterischer Hilflosigkeitgehalten worden war. Ohne Lena wäre ihm damals nur der Weg ins Altersheim geblieben, und sie wusste, dass er ihr für ihren Entschluss dankbar gewesen war, wenngleich er es nie ausgesprochen hatte.
Allerdings hatte sie ihre wissenschaftlichen Ambitionen mit ihrer Rückkehr ins elterliche Haus nicht aufgegeben, es ging eben nur langsamer voran. Nach wie vor schrieb sie, wann immer sie die
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