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Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Titel: Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Zeit dazu fand, an ihrer Magisterarbeit über Friedrich von Hausen, den großen Minnesänger aus dem 12. Jahrhundert. Dessen berühmtestes Lied »Abschied«, das den Kampf zwischen Herz und Leib zum Thema hatte, hing in einer farbenprächtig ausgemalten Fassung über ihrem Schreibtisch, und so manches Mal, wenn sie lange in ihrem Arbeitszimmer hoch unter dem Dach saß, war ihr, als müsse sie in einem früheren Leben selber eine Burgdame gewesen sein. Sie meinte bisweilen, die ferne, schmachtende Stimme eines Ritters zu hören, der zu ihr emporsang: »Mîn herze und mîn lîp, diu wellent scheiden, diu mit ein ander wâren nu manige zît …«
    Zweifellos, sagte sie sich, war das eine bessere Zeit gewesen.
    Kein Tannenbaum, beschloss Lena nach langem Grübeln. Genau genommen beschloss es sich von selbst, denn Lena hatte noch nie einen Baum für Weihnachten gekauft; das war immer die Aufgabe ihres Vaters gewesen. Es wäre ihr ungehörig erschienen, sich einer Aufgabe zu bemächtigen, die so sehr eine elterliche, väterliche war.
    Immerhin hängte sie, einer Tradition ihrer Mutter folgend, Meisenknödel vor das Fenster ihres Arbeitszimmers; ein Weihnachtsgeschenk an die Vogelwelt. Wenn sie über ihren Büchern saß, war es bisweilen eine schöne Abwechslung, von den mittelalterlichen Sagen und Märchen aufzuschauen und zu beobachten, wie sich die Meisen über den Kloß aus Fett und Körnern her machten. Kopfüber krallten sie sich daran, schwangen mit ihm herum, während ihre kleinen Köpfe vor jedem Pick schier endlos oft hierhin und dahin ruckten, ob auch von nirgends Gefahr drohte.
    Dieses Jahr kamen fast jeden Tag sechs Blaumeisen, und nach einiger Zeit war Lena, als erkenne sie jedes der Tiere wieder. Die blaugelben kleinen Wesen sahen aus wie aus Wolle gemacht, doch so niedlichihr Treiben auch war, man kam nicht umhin zu bemerken, dass sie untereinander eine strenge, geradezu erbarmungslose Rangordnung einhielten – eine Rangordnung, die dem größten und stärksten Tier stets den Vorrang einräumte. Erst wenn dieses nicht mehr weiter fressen wollte, durften sich die anderen dem Futterbatzen im grünen Netz nähern. Manchmal duldete einer der Vögel einen Artgenossen auf der anderen Seite der Kugel, doch wenn, dann nicht für lange. Und immer war es der Kleinste und Schwächste, der am Schluss an die Reihe kam, wenn kaum noch etwas übrig war.
    Und so waren es seit ein paar Tagen nur noch fünf Meisen, die sich um den Knödel sammelten. Lena musste unwillkürlich seufzen, als ihr aufging, was das bedeutete.
    Doch so war das nun mal in der Natur. Tiere kannten keine Gnade, kein Erbarmen, kein Mitgefühl. Lieben, sagte sich Lena, war etwas, das nur Menschen konnten. Und auch die konnten es nicht besonders gut.
    Aber sie würde der Versuchung widerstehen, sich dieser trostlosen Stimmung zu ergeben. Auch wenn es traurig war, an einem solchen Fest allein zu sein: Andere hatten es auch nicht leicht oder sogar noch schwerer. Die Bergers von nebenan zum Beispiel, deren damals elfjähriger Sohn vor vier Jahren verschwunden war. Lena hatte das Kind gekannt. Nun, was hieß gekannt? Vom Fenster ihres Zimmers aus hatte sie im nachbarlichen Garten einen Knaben spielen sehen, meistens alleine. Im Sommer hatte er nackt in einem blaugelben Planschbecken gesessen, dessen Wasser offenbar nie ausgewechselt wurde, jedenfalls war es im Lauf der Wochen immer schmutziger geworden. Und nun war er nicht mehr da, war verschwunden – an Weihnachten auch noch, hieß es –, und seine Eltern mussten damit leben, dass nie irgendeine Spur von ihm gefunden worden war.
    Sicher musste man, wie meistens in solchen Fällen, vom Schlimmsten ausgehen, also davon, dass der kleine Julius nicht mehr lebte, aber solange man keine Gewissheit hatte, blieb eben doch ein quälender Rest Hoffnung. Lena begegnete den Eltern gelegentlich auf der Straße. Der Vater war ein verbitterter Mann Mitte fünfzig, der seit damals einePrivatfehde gegen die in seinen Augen unfähige Polizei führte, indem er immer wieder Beschwerden einreichte und jede Zeitungsmeldung über unaufgeklärte Verbrechen zum Anlass für ätzende Leserbriefe nahm, die das Lokalblatt auch stets abdruckte. Seine Frau, dicklich und etwa zehn Jahre jünger, tröstete sich mit einem mageren kleinen Schäferhundmischling, der ihr kurz nach dem Verschwinden Julius’ zugelaufen war und den sie seither mit inbrünstiger Liebe umhegte – ja, Lena hatte durchaus den Eindruck, dass diese Frau den Hund

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