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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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von Rostflecken übersäte Konservendosen aufeinandergestapelt. Aus einem Rost im Boden unter dem Tisch kam warme Luft, die nach Maschinenöl roch. Die gegenüberliegende Wand schimmelte.
    Cohanur machte sich an einer Kurbel in der Wand zu schaffen. »Wir haben es nicht geschafft, weißt du? Wir wussten schon vor hundert Jahren, dass es nicht so weitergehen konnte, aber wir haben es nicht geschafft, etwas zu ändern. Bis es zu spät war. Bis uns alles überrollt hat.« Mit der Kurbel hob er die stählerne Abdeckung, die vor dem einzigen Fenster im Raum herabgelassen war, und Adison konnte hinaussehen.
    Entsetzen stieg in ihm auf, das ihn schier zerreißen wollte. Die schlimmsten Prophezeiungen, die er in seinem alten Leben gehört hatte, waren Wirklichkeit geworden. Das, was er sah, ließ keinen Zweifel daran. Er sah ein weites, totes Tal, sah Sand und Steine und schlierige, giftfarbene Pfützen, sah dunkel kochende Wolken, über einen unbarmherzig flirrenden Himmel ziehend, von dem eine unmenschliche Sonne herabbrannte mit mörderischer Kraft. Er sah eine Landschaft des Todes, düster und hoffnungslos wie ein Gemälde der Hölle, und alles war so fremd, so feindlich, dass er nicht fassen konnte, dass dies noch die Erde sein sollte.
    »Wir haben irgendwann aufgegeben. Die virtuellen Welten waren keine Lösung, aber eine Fluchtmöglichkeit. Immer mehr Leute haben sie der Realität vorgezogen. Sie waren es müde zu kämpfen, gegen das Unausweichliche anzurennen. Die Technik wurde fortentwickelt. In den virtuellen Welten wurde immer mehr möglich, in der realen Welt immer weniger. Irgendwann gab es die ersten, die ganz ›umsiedelten‹, wie man das nannte – die sich mit Computersystemen verbanden in der Absicht, sich ihr restliches Leben lang nicht mehr auszuklinken.« Cohanurs Stimme wurde dünn und flach. »Und hier sind wir nun. Vielleicht sind wir die letzten Menschen, vielleicht gibt es irgendwo noch welche, es spielt keine Rolle. Die meisten haben vergessen, dass sie in einer künstlichen Welt leben, und ich gehe zwischen ihren nutzlosen, träumenden Leibern umher und warte darauf, dass einer von ihnen stirbt. Ich schaue ihnen zu, wie sie verlöschen, und räume fort, was übrig bleibt. So vergeht die Zeit, ich zähle nicht mehr die Tage oder Jahre, ich warte nur und versuche zu verstehen, was das nun alles sollte mit uns Menschen. Wozu wir existiert haben. Wozu wir auf diesem Planeten entstanden sind und gelebt haben, um ihn genauso tot zurückzulassen, wie es der Rest des Universums auch ist.«
    Er schwieg.
    »Warum hast du mir das gezeigt?«, fragte Adison. Seine Lippen fühlten sich verdorrt an, er glaubte den Geschmack von Schimmel und Urin auf der Zunge zu spüren. »Wozu? Ich kann doch auch nichts mehr daran ändern. Warum hast du mich nicht einfach gelassen, wo ich war?«
    Cohanur beugte sich zu ihm herab, und zum ersten Mal erkannte Adison ein Gefühl in dessen Augen: Sehnsucht. Verzweiflung. »Du wirst sterben, Jim Adison«, sagte der hässliche Mann. »Es ist unausweichlich. Ich habe dich befreit, damit du im Bewusstsein der Wahrheit sterben kannst.«
    »Ist das alles?«
    »Das ist die einzige Hoffnung, die uns bleibt: dass auch diese Wirklichkeit Illusion ist und der Tod nichts weiter als ein Erwachen – ein Erwachen in eine Welt, die wahrhaftig ist und vollkommen.«
    Adison wich zurück, vor seinem Geruch, seinem Atem, seiner Nähe. »Und wenn die nächste Welt noch schlimmer ist als diese?«
    »Wie könnte eine Welt noch schlimmer sein als diese?«
    »Wieso setzt du deinem Leben nicht selbst ein Ende, wenn du dir so sicher bist?«
    Cohanur zögerte. »Ich sehe ihnen zu, wie sie sterben, gefangen in der virtuellen Welt. Man sieht nicht, was geschieht. Aber du bist wach. Bitte lass mich zusehen, wenn du stirbst. Vielleicht erhasche ich einen Blick darauf, wohin es dabei geht.«
    Adison sah an sich herab, betrachtete die Geschwüre, vor denen er einst geflohen war. »Ich nehme an, es hat keinen Sinn, dich zu fragen, ob du mich wieder einfrieren kannst.«
    »Nicht den geringsten. Die Geräte dazu existieren nicht mehr. Und selbst wenn – die Energie der Kühlanlagen wird versiegen, und niemand wird da sein, dich ordnungsgemäß wiederzubeleben.«
    Adison nickte. Das hatte er erwartet. Er stand mühsam auf, hielt sich am Tisch fest. »Dann bring mich hinunter«, sagte er. »Schließ mich wieder ans System an.«
    »Nein. Geh nicht.«
    »Vielleicht kann ich es auch selbst tun.«
    Cohanur packte ihn bei

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