Eine undankbare Frau
lag eine große Villa. Er hatte den Sandbergvei erreicht. Die Nummer 15 befand sich auf seiner rechten Seite. Er fuhr langsamer, dann sah er im Garten etwas, das sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Und zwar ein Paar, das in der Sonne einander gegenüber an einem gedeckten Tisch saß. Der Mann fiel ihm aus mehreren Gründen auf.
Er war älter als die Frau.
Er war mager und in sich zusammengesunken.
Und er saß in einem Rollstuhl.
Bei dieser Entdeckung trat Johnny heftig auf die Bremse.
Er zog die Suzuki von der Straße und legte sie ins Gras. Dann hockte er sich daneben und starrte das Paar im Garten an. Sie bemerkten ihn sofort. Sie fühlten sich beobachtet und ließen ihn nicht aus den Augen, deshalb zog er sein Handy hervor, gab vor, eine Nummer einzugeben, und hielt es sich ans Ohr. Sofort konzentrierten die beiden sich wieder aufeinander.
Johnny musterte sie verstohlen. Der Mann im Rollstuhl trug Shorts, er hatte nackte blauweiße Beine, die ihn nicht mehr tragen wollten. Seine Haare waren strähnig und dünn. Die Hände ruhten auf den Rädern, auch ihnen schien die Kraft zu fehlen. Das muss mehr sein als nur gelähmte Beine, dachte Johnny, und als er genauer hinsah, entdeckte er, dass der Mann einen dicken Plastikschlauch im Hals stecken hatte. Das bedeutete, dass er Hilfe beim Atmen brauchte. Das bedeutete, dass die Schwächung im Körper nach oben gewandert war und schon die Lungenmuskulatur erreicht hatte. Die Frau tanzte um ihn herum und versorgte ihn mit allem Möglichen, sie schenkte etwas zu trinken ein und hielt ihm die Tasse an den Mund. Sie tupfte ihm Kinn und Stirn mit einem Taschentuch ab, klopfte ein Kissen aus, das seinen Rücken stützte, und schob unschlüssig eine Schüssel auf dem Tisch hin und her, die sie beide nicht anrührten.
Nachdem er das Paar im Garten lange genug angestarrt hatte, schlenderte Johnny ein wenig weiter. Er blieb bei ihrem Briefkasten stehen, las Namen und Adresse, ging zurück und setzte sich wieder neben seine Suzuki. Sie hießen Landmark, Astrid und Helge Landmark. Sandbergvei Nummer 15. Er besorgte sich die Nummer bei der Auskunft und wählte sie.
Die Frau hörte das Klingeln durch die offene Verandatür und lief ins Haus.
Jetzt war der Mann allein im Garten, vollkommen hilflos in seinem Rollstuhl mit den nutzlosen Beinen. Er versuchte zu begreifen, wo die Frau steckte, von deren Hilfe er so abhängig war. Wenn er jetzt dringend etwas benötigte, würde er nach ihr rufen müssen. Wenn er rufen könnte. Ihn hatte eine Unruhe befallen, die er mit seinem unförmigen Körper nicht mehr ausdrücken konnte. Aber man konnte es ihm ansehen.
Johnny legte auf. Sekunden später kam die Frau wieder in den Garten, sie war verwirrt, weil sie irgendjemand von ihrem Posten weggelockt hatte. Sie beugte sich über ihren Mann und streichelte seinen Arm. Johnny setzte sich auf seine Suzuki und fuhr weiter. Die Hilflosigkeit des Mannes und die Ängstlichkeit der Frau hatten ihn in eine eigenartige Stimmung versetzt.
Auf dem Heimweg wollte er am Stausee vorbeifahren.
Er schob die Suzuki das letzte Stück durch den Wald und lehnte sie an eine Tanne. Er wollte gerade zum See hinuntergehen, als er durch die Bäume jemanden entdeckte. Jemand war ihm zuvorgekommen. Und dieser jemand hatte sich auf die Staumauer gesetzt, wo er sonst immer saß. Er war so enttäuscht, er hätte schreien können, denn es war sein Platz, sein geheimer Ort am Wasser, und bisher war niemand außer ihm dort gewesen. Dann sah er ein Fahrrad im Unterholz. Es lag rechts neben ihm im Heidekraut, ein blaues Fahrrad. Er versteckte sich hinter einem Baum, stand da und starrte es mit brennenden Augen an. Das Fahrrad war von der Marke Nakamura. Also war es Else Meiner, die dort draußen auf seinem Platz saß, die Drecksgöre. Else Meiner mit der großen Klappe. Sie las ein Buch. Und hatte keine Ahnung, dass er hinter einem Baum stand und sie beobachtete. Er starrte auf ihren roten Zopf. Die Sonne ließ ihn wie einen dicken Kupferdraht leuchten. Ein kleiner Stoß nur, dachte er sich, und dann fällst du ins Wasser, mit deiner spitzen Nase zuerst. Ich krieg dich noch, schwor er sich. Ich warte nur auf den richtigen Moment, und dann bist du dran. Eine ganze Weile stand er da und betrachtete ihren schmalen Rücken. Dann schlich er sich vorsichtig durch das Heidekraut zurück. Zog das Armeemesser aus dem Gürtel und schlitzte beide Fahrradreifen auf. Die Sonne hatte das Gummi erwärmt und das Messer hatte leichtes
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