Eine unheilvolle Begegnung
Hast du den Knebel noch?«
Sam strich mit ihren Fingern über den Boden, bis sie den Stoff fand. »Ja.«
»Den steckst du dir wieder in den Mund und hältst die Arme hinter dem Rücken, damit es so aussieht, als wärest du immer noch gefesselt.«
»Okay, und was machst du?«
»Ich werde hinten im Halbdunkel bleiben und so tun, als wäre ich noch bewusstlos oder tot. Wenn dann jemand in den Wagen kommt, um mich zu holen, werde ich ihn ablenken, während du losrennst.«
»Ablenken? Willst du etwa mit ihnen kämpfen?«
»Ja. Ich werde alles tun, was nötig ist, um dir die Chance zur Flucht zu ermöglichen.«
Das klang so endgültig, als hätte Morgan schon längst die Hoffnung aufgegeben, selbst auch fliehen zu können. Und wenn man es realistisch betrachtete, war die Möglichkeit, dass sie gemeinsam entkamen, mehr als gering. Aber sie mussten es zumindest versuchen. Wenn sie erst in der Höhle des Löwen waren, würden sie höchstwahrscheinlich keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.
»Glaubst du, dass dein Bruder die Polizei gerufen hat?«
»Vermutlich. Aber das wird uns auch nicht helfen. Er weiß ja nicht, wo wir hingebracht werden. Ich habe ihm am Telefon nicht erzählt, was in der letzten Zeit passiert ist, und wollte damit warten, bis ich es ihm persönlich sagen kann.«
Sam seufzte. »Dann sind wir wohl wirklich auf uns selbst gestellt.«
»Ja.« Morgan strich zärtlich mit seiner Hand über ihre Wange. »Tut mir leid.«
»Wenn du das noch einmal …« Sam verstummte, als sich das Motorengeräusch des Lieferwagens veränderte. Es hörte sich an, als würde das Auto einen Hügel hinauffahren.
Sam spürte, wie Morgan sich neben ihr versteifte. »Ich glaube, wir sind fast da. Vor Geralds Haus geht die Straße bergauf.«
Tatsächlich, der Wagen verlangsamte die Fahrt, die Bremsen quietschten.
»Hör zu. Sollten wir durch das Tor fahren, kommst du nicht mehr ohne Weiteres raus. Dann läufst du nicht zur Straße und zum Tor zurück, sondern zur rechten Seite vom Haus aus gesehen. Da ist das Grundstück von Bäumen und einem Zaun umgeben und geht in einen Wald über. Klettere über den Zaun und versteck dich.«
Sam wusste, dass jetzt keine Zeit zum Streiten war. Sie beugte sich vor und presste ihren Mund auf Morgans.
Verzweifelt erwiderte Morgan den Kuss, dann schob er sie von sich. »Mach dich bereit.« Er bewegte sich zum hinteren Teil des Wagens, direkt unter dem kleinen, getönten Fenster.
Sam rutschte herum, um eine bequeme Position zu finden und stieß einen kleinen Laut des Abscheus aus, als sie den Knebel aufhob. Es fiel ihr unheimlich schwer, sich einfach nur hinzulegen und abzuwarten, doch schließlich lag sie still, das schmutzige Stück Stoff noch in der Hand.
»Bereit?« Morgans Stimme war ein raues Flüstern.
»Nein.« Sie schluckte hart. »Ich habe Angst.«
»Ich auch.«
Diesmal hielt der Wagen ganz, die Türen wurden geöffnet und dann wieder zugeworfen.
Sam zuckte zusammen. Sie zitterte am ganzen Körper. »Morgan …«
»Ja?«
»Ich liebe dich.«
Einen Moment lang herrschte Stille. »Sam …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment wurde ein Schlüssel ins Schloss geschoben und herumgedreht. Sam steckte sich schnell den Knebel in den Mund und würgte kurz, dann lag sie still.
34
Eine der Türen öffnete sich einen Spaltbreit, eine Hand mit Pistole wurde sichtbar, dann ein Kopf. Sam zwang sich, still zu liegen, obwohl sie am liebsten sofort aufgesprungen wäre, doch sie musste den richtigen Moment abpassen. Der Mann stellte seinen Fuß auf das Trittbett und schwang sich in den Wagen. Die eine Tür war jetzt ganz offen, während die zweite nur zur Hälfte geöffnet war. Chuck beugte sich zu ihr herunter und prüfte, ob sie wach war. Sam blickte ihn mit wütenden Augen an, tat aber weiterhin so, als wäre sie gefesselt und geknebelt. Er grinste sie nur an, dann ging er weiter nach hinten, wo Morgan lag, und beugte sich über ihn.
Morgan bewegte sich blitzschnell: Sein Arm schoss nach oben und schlug dem Mann die Waffe aus der Hand, während sein Bein gegen dessen Knie trat und ihn so zu Fall brachte. Mit einem Schrei ging der Verbrecher zu Boden. Sofort kämpften sie um die Oberhand, ein wildes Gerangel entstand.
»Sam, lauf!«
Sam zögerte kurz, dann sprang sie auf, entfernte den Knebel und stürzte aus dem Wagen. Sie schob die zweite Tür auf und traf dabei mit Wucht den zweiten Mann. Er ging halb besinnungslos zu Boden. Sam sprang über ihn hinweg und lief, so schnell
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