Eine Unheilvolle Liebe
Mutter hat deinen Vater geliebt.«
»Aber sie ist nicht seinetwegen nach Gatlin gezogen, sie ist wegen Macon gekommen.«
»Deine Eltern haben sich an der Duke University kennengelernt. Damals schrieben wir gerade an unseren Doktorarbeiten. Als Hüterin lebte deine Mutter in den unterirdischen Gängen von Gatlin, wenn sie nicht gerade zwischen der Lunae Libri und der Universität hin und her pendelte, um gemeinsam mit mir zu forschen. Sie wohnte nicht in der Stadt, nicht in der Welt von Mrs Lincoln und der TAR . Und als sie schließlich doch nach Gatlin zog, tat sie es deinem Vater zuliebe. Sie kam aus der Dunkelheit und ging ins Licht, und glaub mir, das war ein großer Schritt für sie. Dein Vater hat sie vor sich selbst gerettet, als niemand von uns das vermochte. Ich nicht und Macon nicht.«
Mein Blick glitt über die Zitronenbäume, in deren Schatten Macons Grab lag, und an ihnen vorbei zum Grab meiner Mutter. Ich dachte an meinen Vater, wie er dort gekniet hatte. Ich dachte an Macon, der ein Grab im Garten des Immerwährenden Friedens in Kauf genommen hatte, nur um einen Steinwurf von meiner Mutter entfernt seine letzte Ruhe zu finden.
»Sie ist in eine Stadt gezogen, in der niemand sie willkommen hieß, und das tat sie, weil dein Vater nicht von hier weggehen wollte und sie ihn liebte.« Marian hatte mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger genommen. »Er war nur nicht der Erste, den sie geliebt hat.«
Ich holte tief Luft. Also war zumindest nicht alles in meinem bisherigen Leben eine Lüge gewesen. Mom hatte meinen Vater geliebt, auch wenn sie Macon ebenfalls geliebt hatte. Ich nahm Marian das Bogenlicht aus der Hand. Ich wollte es festhalten, um ein Stück von beiden zu besitzen. »Sie hat nie herausgefunden, wie Sterbliche und Caster zusammen sein können.«
»Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist.« Marian legte mir den Arm um die Schulter und ich lehnte meinen Kopf gegen sie. »Aber solltest du tatsächlich ein Lotse sein, findest du es vielleicht eines Tages heraus.«
Zum ersten Mal, seit ich Lena vor fast einem Jahr vor mir auf der Straße im Regen gesehen hatte, wusste ich nicht weiter. So wie meine Mutter hatte auch ich keine Antwort auf meine Fragen gefunden, sondern nur ungelöste Probleme. Wie es aussah, teilten wir das gleiche Schicksal.
Ich betrachtete das Kästchen in Marians Hand. »Musste meine Mutter deshalb sterben? Weil sie die Antwort finden wollte?«
Marian drückte mir das Kästchen in die Hand und schloss meine Finger darum. »Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Zieh deine eigenen Schlüsse daraus. Ich darf mich nicht einmischen, so lauten die Regeln. In der großen Ordnung der Dinge bin ich nicht wichtig. Hüter sind niemals wichtig.«
»Das stimmt nicht.« Marian war mir wichtig, aber das konnte ich ihr nicht sagen. Meine Mutter war mir wichtig. Das musste ich ihr nicht sagen.
Lächelnd zog Marian ihre Hand weg und überließ mir das Kästchen. »Ich beschwere mich nicht. Ich habe diesen Weg aus freien Stücken gewählt. Nicht jeder kann sich seinen Platz in der großen Ordnung selbst aussuchen.«
»Du meinst, so wie Lena? Und so wie ich?«
»Du bist wichtig, ob du es willst oder nicht. Und auch Lena ist wichtig. Deshalb habt ihr keine Wahl.« Sie strich mir die Haare aus der Stirn, so wie Mom es immer gemacht hatte. »Wahrheit ist Wahrheit. Selten unkompliziert und niemals einfach, wie Oscar Wilde zu sagen pflegte.«
»Was meinst du damit?«
»Jede Wahrheit ist einfach, wenn man sie erst einmal entdeckt hat. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, sie zu entdecken.«
»Ist das auch von Oscar Wilde?«
»Nein, von Galilei, dem Vater der modernen Astronomie. Auch er war jemand, der die Ordnung der Dinge nicht anerkennen wollte – in seinem Fall die Vorstellung, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Er wusste wahrscheinlich besser als alle anderen, dass wir keine Wahl haben. Wir können uns nicht aussuchen, was wahr und was falsch ist. Wir können nur wählen, was wir mit der Wahrheit anfangen.«
Tief in meinem Inneren wusste ich, was sie mir sagen wollte, dazu brauchte ich weder Galilei noch Oscar Wilde. Ich war ein Teil von allem, ob ich es wollte oder nicht. Ich konnte vor dieser Erkenntnis genauso wenig davonlaufen wie vor meinen Visionen.
Nun musste ich entscheiden, was ich damit anfangen wollte.
Spring!
17.6.
Als ich mich in dieser Nacht ins Bett legte, hatte ich Angst vor meinen Träumen. Es heißt ja immer, man träumt das weiter,
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